“In 33 Ländern ist es derzeit besonders kritisch“: Gespräch mit Ingeborg Schäuble, der Vorsitzenden der Deutschen Welthungerhilfe.

Hamburger Abendblatt:

Frau Schäuble, warum kommt die Nachricht über die verheerende Versorgungslage in Teilen der Dritten Welt so plötzlich? Hatte sich das menschliche Drama in den letzten Monaten und Jahren nicht angekündigt?

Ingeborg Schäuble:

Tatsächlich hat sich die Lage von vielen unbemerkt verschlimmert. Wir wissen von den Überschwemmungen in Bangladesch und Indien, teilweise auch von Krisenherden in Afrika. Regionale Katastrophen und vernichtete Ernten jedoch finden kaum Widerhall im täglichen Leben. Es ist schwer, Gehör zu ernten - die Menschen sind ein bisschen Tsunami-müde.



Abendblatt:

Welche Ursachen hat denn diese dramatische Entwicklung?

Schäuble:

Die Nachfrage nach Nahrungsmitteln ist rasant gewachsen. Gründe sind Missernten, Dürren, Überschwemmungen. Spekulationen mit Getreide verschärfen die Situation zusätzlich. Parallel sind die Preise für Grundnahrungsmittel erheblich gestiegen. In 33 Ländern ist die Lage derzeit besonders kritisch. In Haiti zum Beispiel hat die Nahrungsmittelknappheit Auswirkung auf die Stabilität der gesamten Region. Die Probleme sind vielschichtig. Schnell wird das Hungerproblem nicht zu lösen sein. Im Gegenteil: Während die Weltbevölkerung Jahr für Jahr um 75 Millionen Menschen zunimmt, sinkt der Abbau an Reis, Weizen und anderen Grundnahrungsmitteln.



Abendblatt:

Und wo drohen besonders große Hungersnöte?

Schäuble:

Überall dort, wo Menschen vertrieben sind. Und das betrifft derzeit 70 Millionen auf der Erde - eine unfassbare Zahl. In Dafur musste die Tagesration für zwei Millionen Flüchtlinge gerade von 200 Gramm Reis noch weiter gesenkt werden. Das sind dramatische Zustände, die sich hierzulande kaum jemand vorstellen kann. Auch moralisch können es sich die reichen Länder nicht leisten, Erwachsene und Kinder Hunger leiden zu lassen. Wir sind es uns allen schuldig, an die Regierungen zu appellieren: Helft mehr, die Landwirtschaft in der Dritten Welt zu entwickeln. Und bringt mehr Geld für die Forschung auf. Damit die Probleme von Grund auf angepackt werden können.



Abendblatt:

Was ist zu tun?

Schäuble:

Die Entwicklungsländer haben ihre eigene Landwirtschaft vernachlässigt und sich so den Boden für die Ernährung der eigenen Bevölkerung genommen. Die Geberländer dagegen tun nach unserer Auffassung zu wenig für das ländliche Umfeld. Außerdem investieren sie zu wenig in die Forschung, um neues Saatgut und neue Pflanzen zu entwickeln. Mit der Folge, dass die meisten Entwicklungsländer weit mehr Nahrungsmittel importieren als exportieren. Grundsätzlich und langfristig sollten die Industrienationen darauf verzichten, subventionierte Agrarprodukte in die Dritte Welt zu liefern. Kurzfristig können damit aber natürlich Löcher gestopft werden.



Abendblatt:

Und was kann jeder Einzelne machen?

Schäuble:

Natürlich bringt jede Spende jetzt schnelle Hilfe, um weitere Katastrophen zu verhindern. Auch sollte jeder darüber nachdenken, wie unsere wertvolle Erde besser, sinnvoller und gerechter genutzt werden kann. Das fängt damit an, weniger Fleisch zu essen. Denn es ist ja bekannt, dass man im Schnitt sieben Kilo Getreide braucht, um ein Kilo Rindfleisch auf dem Markt anbieten zu können - und drei Kilo Getreide für ein Kilo Schweinefleisch. Getreide, das anderswo benötigt wird, um Menschenleben zu retten. Noch ein Beispiel: Von zwei Tankfüllungen aus Mais gewonnenem Biosprit kann sich ein Mensch in den Entwicklungsländern ein ganzes Jahr lang ernähren. Da stellt sich die grundsätzliche Frage: Was ist wirklich wichtig?



Abendblatt:

Wie sind die Aussichten?

Schäuble:

Es gibt kleine Signale, dass sich die Lage ein wenig entschärfen kann. Es stehen einige erfreuliche Ernten an. Andererseits bestehen aktuell die niedrigsten Nahrungsmittelreserven seit 25 Jahren. Diese Reservoirs müssen dringend weltweit aufgefüllt werden. Außerdem steigen die Preise für Nahrungsmittel wohl weiter.



Abendblatt:

Und was ist daran gut?

Schäuble:

Attraktivere Preise spornen die Bauern wieder an, ihr Land zu bebauen und Reis, Getreide oder anderes zu produzieren. In China wurde die Parole ausgegeben, dass jedes Kind jeden Tag ein bisschen Milch trinken soll. Solche Maßnahmen tragen dazu bei, ein gesundes Wachstum zu fördern. Nur wenn sich die Arbeit für die Landwirte in der Dritten Welt rechnet, wird sich der Hunger eindämmen lassen.


Videoberichte zu Hungerkrisen infolge von Preissteigerungen