Nahost-Krise: Raketen von hier, Vergeltung von dort - Szenen von Angst und Leid beiderseits der libanesischen Grenze. Libanesen, die sich weiter nördlich in Sicherheit bringen wollen, müssen wegen zerstörter Brücken Nebenstraßen durch die Berge nehmen. Viele Israelis richten sich auf eine längere Zeit in den Schutzräumen ein.

Tyrus/Naharija. Hunderte Flüchtlinge sind in Damur, 20 Kilometer südlich von Beirut, angelangt, Koffer in der Hand, Bündel oder Kleinkind im Arm. Auf den Überresten einer Brücke, in die eine israelische Bombe in der Nacht einen fünf Meter tiefen Krater riß, warten sie auf eine Mitfahrgelegenheit in nördlicher Richtung. "Wir gehen nach Beirut oder sonstwo hin. Wir haben Angst", sagt eine Frau, die seit dem Morgen mit ihren zwei Kindern aus der Hafenstadt Sidon auf der Flucht Richtung Norden ist. Mit Hilfe eines Baggers versuchen dutzende Männer den Schutt beiseite zu schieben, um zumindest einen schmalen Straßenabschnitt freizubekommen.

Sechs Jahre nach dem Abzug der israelischen Truppen aus dem Südlibanon ist der Krieg in die Region zurückgekehrt. Die ursprüngliche Freude in den von der proiranischen Hisbollah-Miliz kontrollierten Gebieten über die Gefangennahme zweier israelischer Soldaten ist einer Art Lähmung gewichen. Da, wo tags zuvor noch Jugendliche in den Hafenstädten Sidon und Tyrus jubelten und Süßigkeiten auf den Straßen verteilten, herrscht jetzt gähnende Leere. Die meisten Läden sind geschlossen, die Strände verwaist.

"Früher sind wir in solchen Fällen direkt nach Beirut geflohen", sagt ein Mann aus dem Südlibanon. "Aber jetzt sind wir dort wohl nicht mehr so willkommen wie früher", fügt er mit bedauerndem Unterton hinzu. In den Jahren der israelischen Besatzung zwischen 1978 und 2000 sei die Solidarität mit der Hisbollah, die nach dem Abzug der Israelis in das geräumte Gebiet vorrückte, größer gewesen. Mittlerweile forderten viele, den Einfluß der "Partei Gottes" zurückzudrängen und die Hisbollah zu entwaffnen.

Meist wollen die Menschen auf der Küstenautobahn zu Verwandten in die Hauptstadt. Viele der Flüchtlinge sind syrische Tagelöhner. Einer von ihnen ist Chaled Ahmed Rayes, der zuletzt in der Küstenregion von Tyrus Arbeit hatte. Mit seiner Frau, ihren fünf Kindern, seinen Kusinen und deren Kindern will er noch weiter nördlich, nach Tripoli, wo er Verwandte hat. Die Awali-Brücke südlich von Damur auf dem Weg nach Sidon ist ebenfalls zerstört. Die Flüchtlinge müssen Nebenstraßen über die Berge nehmen.

Seitenwechsel: In der nordisraelischen Stadt Naharija machen die Katjuscha-Raketen der Hisbollah die Bevölkerung mürbe. "Ich stehe unter Schock. Ich habe wahnsinnige Angst. Ich will weg von hier", sagt Rachel mit gepresster Stimme und zitternden Händen. Erst wenige Stunden zuvor hatte ein Geschoß eine Frau tödlich getroffen. Während die israelische Armee die Angriffe erwidert, rasen Ambulanzen durch die Stadt. Über Lautsprecherwagen der Polizei werden die Bewohner aufgefordert, sich in die Unterstände zu begeben.

In einem der Bunker warten verschreckte Menschen auf Entwarnung. Die 17jährige Dana Goslan tröstet ihre weinende Schwester. "Wir wollten fliehen, aber jetzt ist es zu gefährlich", sagt die Mutter der beiden. Andere Bewohner wollen es trotzdem versuchen und packen ihre Habseligkeiten in den Kofferraum ihrer Autos. Das Cafee der 49jährigen Pnina Sreytak hat weiterhin geöffnet. "Die Hisbollah wird uns nicht daran hindern, normal zu leben", sagt die Inhaberin trotzig. Doch an den ordentlich aufgereihten Tischen und Stühlen nimmt niemand Platz.

"Man kann nichts tun, einfach nur hilflos abwarten, wie sich die Lage entwickelt." Schula gehört zu den Einwohnern des Moschav Sarit, einer israelischen Gemeinschaftssiedlung direkt an der libanesischen Grenze. Wenige Hundert Meter auf der anderen Seite des Grenzzauns saßen bis vor ein paar Tagen noch die Kämpfer der Hisbollah. Mit dem Überfall auf die beiden Militärjeeps am frühen Mittwoch morgen ist die Ruhe dahin. "Das hatten wir doch schon einmal. All die schlimmen Erinnerungen kommen zurück", sagt Schula, "an die Zeit vor 1982, als unsere Kinder unter täglichem Bombardement aufwachsen mußten."

Dabei ist es gar nicht so sehr der mörderische Raketenhagel, der die Bewohner im Norden Israels frustriert, als vielmehr die Aussicht, daß sich auch dieses Mal nichts ändern wird. "Wenn wir reagieren, schreit die Welt auf und meint, daß wir überreagieren", schimpft Alice, die aus Amerika eingewandert ist und seit 1976 in Naharija - einer nordisraelischen Küstenstadt - wohnt. "Aber solange wir beschossen werden, kümmert sich niemand darum."

In seinem Haus mit Blick auf den See Genezareth macht sich Juda große Sorgen; sein Heim ist plötzlich wieder in die Reichweite der Hisbollah-Raketen geraten. "Wir müssen die andere Seite so hart schlagen, daß sie merken: Es lohnt sich nicht, uns anzugreifen." Dabei sollte nach Judas Meinung dem Libanon klar gemacht werden, daß er dafür verantwortlich ist, was auf seinem Territorium geschieht und von seinem Territorium ausgeht.

Doch das wird nicht schnell zu erreichen sein. Darüber sind sich alle im Klaren. Deshalb richten sich die Bewohner des israelischen Nordens auf eine längere Zeit in Schutzräumen und Bunkern ein, sofern diese vorhanden sind. Apathisch oder gelassen haben Holocaustüberlebende in dem von Deutschen geführten Pflegeheim Beit Elieser in Maalot, nur acht Kilometer von der Grenze zum Libanon entfernt, es über sich ergehen lassen, als sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen und in den Bunker verlegt wurden. Aber die großen, angst- erfüllten Augen erzählen den deutschen Volontären, die sie betreuen, Bände.

Schon in den ersten Stunden nach Beginn der unüberhörbaren Kampfhandlungen fuhren die ersten Autos in Richtung Süden, möglichst weit weg von den gefährlichen und unberechenbaren Raketen. Auch Aviv überlegt, ob er seine Heimat verlassen soll. "Meine vierjährige Tochter reagierte hysterisch, als sie heute morgen die Raketen einschlagen hörte. Jetzt ist sie ruhig. Aber wir können nicht mehr viel aushalten."