AMT NEUHAUS. Eine Stunde vor Hamburg: Die Evakuierung läuft. Alte und Pflegebedürftige zuerst. Hanna-Lotte Mikuteit Strachau

Die Sandlaster fahren den ganzen Tag. Dazwischen rasen immer wieder lange Kolonnen mit Feuerwehrwagen über die B 195. Nur wenige Hundert Meter entfernt schwillt die Elbe an. Hubschrauber kreisen am Himmel. Ausnahmezustand in der kleinen ostelbischen Gemeinde Amt Neuhaus (Landkreis Lüneburg). Am Wegrand liegen große Sandhaufen. Viele Tausend Sandsäcke sind schon gefüllt. Überall dichten Menschen ihre Häuser ab, mit Ziegelsteinen, Brettern, Plastikplanen. Einige Geschäfte sind schon geschlossen. Es gibt Hamsterkäufe. Die Flut kommt näher - und schneller als erwartet. Viele Deichkilometer in der Gemeinde, zu der fast 30 kleine Dörfer entlang der Elbe gehören, sind marode und nicht hoch genug angesichts der erwarteten Pegelstände. Eine Schwachstelle ist bei Bitter. 800 Feuerwehrleute haben dort fieberhaft gearbeitet, um den Deich zu sichern. Insgesamt sollen bis heute Morgen etwa 3000 Hilfskräfte in der Region sein, darunter 1200 Soldaten. Lautsprecherwagen fahren durch die Elbdörfer, informieren die Bewohner über eine mögliche Evakuierung. Merkblätter werden verteilt. Bis zu 5700 Menschen werden ausgesiedelt. Zwei Altenheime sind gestern bereits geräumt worden. Die Krankenwagen vor dem Seniorenheim Elbtalaue in Strachau stehen bis an die Straße. Die Blaulichter blinken in den heißen Sonnennachmittag. Das Haus liegt im äußersten Zipfel der Gemeinde unweit des Deichs. Die idyllische Lage im Elbknick könnte schnell zur tödlichen Falle werden. "Wenn das Wasser kommt, sind wir eingeschlossen", sagt Heimleiterin Christine Mowwe (50). Deshalb sind die 22 teilweise schwer pflegebedürftigen Bewohner die ersten, die evakuiert und in ein Altenheim nach Lüneburg gebracht werden. Seit zwei Stunden sitzen sie in der Diele und warten. Irgendwo stöhnt eine, eine andere wimmert vor sich hin. "Angst habe ich nicht", sagt Hildegard Grützmacher (89). "Aber wenn das weiter so ansteigt, bin ich froh, dass wir hier wegkommen." Weißgraue Dauerwelle, die Fingernägel rot lackiert, sitzt die frühere Kosmetikerin, die schon die Flut 1962 in Hamburg miterlebt hat, in ihrem Rollstuhl. Die kleine braune Ledertasche auf dem Schoß hat sie fest umklammert. "Die Fernsehbilder aus Dresden waren schon schockierend", sagt sie. Medikamente, Papiere und die notwendigsten persönlichen Sachen sind gepackt. Überall im Haus herrscht hektische Betriebsamkeit. Die Mitarbeiterinnen schleppen Körbe mit Brot raus, auch die Enten und Kaninchen sind abtransportiert. Während im Altenheim alles nach Plan läuft, wollen die Nachbarn im kleinen Elbdorf nicht gehen. "Mein Haus liegt ziemlich hoch", meint Hendrik Schulz (45). Der Künstler ist vor vier Jahren aus dem Wendland in die entlegene Idylle gezogen, hat sein 200 Jahre altes Bauernhaus liebevoll renoviert. "Ich kann in den ersten Stock, habe ein Boot", sagt er. "Was soll mir passieren?" Im Krisenstab wird jedoch mit der Evakuierung der gesamten Bevölkerung gerechnet. "Es stehen genug Fahrzeuge bereit", sagt Koordinator Nils Wollny vom Deutschen Roten Kreuz. Reisebusse sind zusammengezogen worden. Um kurz nach 15 Uhr beginnen die Sanitäter mit der Evakuierung. Eine grauhaarige Frau wird auf einer Trage in den Wagen gebracht, ihr Gesicht ist angstverzerrt. Andere gehen mit zitternden Händen. "Es ist die Veränderung, die ihnen Angst macht", sagt eine Mitarbeiterin. Nach einer Stunde ist die Aktion beendet. Die Kolonne fährt ab. Heimleiterin Mowwe geht noch einmal durchs Haus. Die Kellerfenster sind schon zugemauert. "Dann schließe ich das Haus ab und fahre hinterher", sagt sie. Was dann passiert, weiß niemand.