Apokalyptische Szenen in den Straßen von Port-au-Prince. Und Präsident Préval ist ebenso hilflos wie sein Volk.

Bogota/Miami. Hilflos stammelt Präsident René Préval seine Worte ins Mikrofon. Hier, irgendwo auf dem Flughafengelände der Hauptstadt Port-au-Prince, wollte der haitianische Staatschef eigentlich seinen Krisenstab aufbauen. Doch der Mann, dessen weißgraues Haar noch ein wenig weißer wirkt als sonst, weiß nicht mehr weiter. Sein Präsidentenpalast ist eingestürzt. Viele Mitarbeiter hat er dabei verloren, wichtige Ministerien existieren nicht mehr.

Und hier inmitten dieses Chaos kommt es zu einem bizarren Interview mit einem Reporter des US-Senders CNN. Wie viele Opfer er befürchte, fragt der Interviewer den Präsidenten. Der spricht von 30 000 bis 50 000 Toten, das habe CNN doch eben gemeldet. Dann müsse das doch stimmen. Über das gesamte Ausmaß der Katastrophe in seinem eigenen Land hat Préval nicht einmal im Ansatz zuverlässige Informationen. Er flüchtet sich in Allgemeinplätze: "Ich muss mich jetzt darum kümmern, so viele Menschen wie möglich zu retten", sagt er, doch seine Worte klingen leer und erschöpft. Haiti und seine Institutionen sind am Ende. Préval ist in diesem Moment wahrscheinlich der einzige amtierende Staatschef der Welt ohne Büro, Verwaltung und Mitarbeiterstab.

Unklar ist auch, wem und wie Präsident Préval Anordnungen geben soll. Der Polizeiapparat ist zusammengebrochen, die medizinische Versorgung, die bereits vor dem Erdbeben katastrophal war, existiert praktisch nicht mehr. Die Gebäude, in denen staatliche Behörden und Institutionen untergebracht waren, sind dem Erdboden gleichgemacht. Nicht einmal mehr die internationalen Hilfsorganisationen können arbeiten.

Die Uno vermisst mehr als 100 Mitarbeiter. Unter den Toten ist offenbar auch der Leiter der Uno-Friedensmission Minustah, der tunesische Diplomat Hedi Annabi. Die Friedenstruppen zählten bereits am ersten Tag mehr als zwei Dutzend Tote aus den eigenen Reihen. Darunter sind auch Chinesen, Brasilianer, Argentinier. Rund 3000 Blauhelm-Soldaten haben das Beben offenbar einigermaßen unversehrt überstanden. Sie versuchen verzweifelt, in dem Chaos ein Mindestmaß an Ordnung wiederherzustellen. In der Millionen-Metropole Port-au-Prince war das schon vor dem Beben ein nahezu aussichtsloses Unterfangen, nun erscheint es geradezu unmenschlich.

Nach dem Schock begann der stündliche Kampf ums Überleben. Meldungen über Plünderungen häufen sich. Es gibt kein Trinkwasser, keine Nahrung, keine Unterkunft. Wer hier überleben will, muss sich selbst helfen. Das macht die Situation für die Schwächsten unter den Schwachen noch schlimmer: Kinder und Frauen trifft die volle Wucht der Naturkatastrophe. "Wir sehen weinende und blutende Kinder, die nicht wissen wohin", sagt Amanda Rives von der Hilfsorganisation World Vision. "Sie brauchen dringend medizinische Hilfe, Trinkwasser, Nahrung und psychologische Betreuung. Solch ein Erlebnis ist für viele einfach traumatisierend."

Die Situation von Kindern in Haiti war bereits vor dem Beben menschenunwürdig. Die Armut ist so groß, dass viele Kinder zur Arbeit gezwungen werden, statt zur Schule zu gehen. Vor allem junge Mädchen werden dabei auch Opfer von sexuellen Übergriffen ihrer "Arbeitgeber". Nun irren diese Kinder ziel- und hilflos durch die Straßen. Wo einst ihre Hütten standen, türmen sich Haufen von Blech, Beton und Holz. Durch den Staub dringt erster Verwesungsgeruch, der durch die Hitze des Tages noch verstärkt wird. Die Kinder wissen nicht wohin: Mutter, Vater sind tot, vermisst oder verschüttet. Ein Zuhause existiert nicht mehr und die Wunden, nicht nur die seelischen, brennen.

Die Kinder ziehen vorbei an rauchenden Trümmern, an Leichen, die zu Hunderten auf den Straßen liegen. Manchmal sind sie sogar zu Leichenbergen aufgetürmt. Es gibt keine Anlaufstelle für diese hilflosen Opfer. Selbst viele Kirchen sind eingestürzt. Der Erzbischof der Hauptstadt Port-au-Prince, Serge Miot, ist das prominenteste Opfer. Er wurde von herabstürzenden Trümmern im Gebäude des Erzbistums erschlagen. Die kirchlichen Mitarbeiter, die mit dem Leben davongekommen sind, helfen so gut es eben geht: Sie scheinen bis zum Eintreffen der internationalen Hilfskräfte die einzige unter diesen Umständen noch halbwegs funktionierende Infrastruktur anbieten zu können.

In den wenigen Hospitälern, die nicht eingestürzt sind, wird bis zur Erschöpfung gearbeitet. Mitarbeiter von "Ärzte ohne Grenzen" berichten über erschütternde Szenen vor den Toren der Krankenhäuser. Polizisten lassen nur Schwerverletzte durch, verzweifelte Menschen, die ihre toten Angehörigen abholen wollen, werden abgewiesen. In den schwer zugänglichen Gebieten in der Hügellandschaft rund um Port-au-Prince warten noch unzählige Verletzte, die von der Außenwelt abgeschnitten sind. Hierhin gelangt kein Fernsehteam, keine Hilfsorganisation und schon gar keine staatliche Institution.

Hilfe soll trotzdem bald ankommen. Es ist eine Sache, Geld bereitzustellen, eine andere ist, die dringend benötigten Hilfsmittel auch tatsächlich zu den Opfern bringen zu können. Die US-Marine entsandte bereits einen Flugzeugträger, dessen Besatzung den Flugverkehr über Haiti überwachen soll. Denn der Tower des Flughafens von Port-au-Prince ist zerstört.

Doch es gibt auch eine gute Nachricht: Der Hafen scheint passierbar zu sein. Doch bevor die Rettungsschiffe Haiti erreichen, vergehen weitere wertvolle Stunden. Fast alle lateinamerikanischen Staaten entsenden Hilfskräfte und Rettungsteams. Hinter den Kulissen ist bereits ein bizarrer Wettlauf entbrannt, der sich in der Region ohnehin schon seit Jahren abzeichnet. Das ölreiche, sozialistische Venezuela und die USA bekämpfen sich auch auf dem Gebiet der Menschlichkeit. Welches System ist das bessere, welches kann schneller helfen, welches kann politisch mehr punkten? Das venezolanische Staatsfernsehen berichtet ausführlich über die "Helden" der venezolanischen Luftwaffe, die vor Ort helfen sollen. Und auch die Sender in den USA zeigen Bilder von startbereiten Militärtransportern, vollgepackt mit Hilfsgütern von US Aid.

Doch wirklich angekommen ist in Haiti auch am zweiten Tag der Katastrophe noch nichts.