Plünderungen und Diktaturen machten den früher reichen Inselteil zum Armenhaus und zum politischen Krisenherd.

Hamburg. In seinem ebenso berühmten wie umstrittenen Bestseller "Kampf der Kulturen" teilte der amerikanische Politologe Samuel Huntington (1927-2008) die Welt in acht rivalisierende Kulturkreise ein. Und er schuf eine Sonderkategorie: die "einsamen Staaten" - jene ohne Anschluss an die Hauptkulturen der Welt.

Haiti, das ärmste Land der westlichen Hemisphäre, ist ein "einsamer Staat". Haiti stehe weder den Lateinamerikanern noch den englischsprachigen Staaten der Karibik nahe, heißt es bei Huntington. Haiti sei "der Nachbar, den keiner will. Wahrhaftig ein Land ohne Verwandte."

Haiti liegt auf dem westlichen Teil der Insel Hispaniola, die mit Jamaika, Kuba und Puerto Rico die Großen Antillen bildet. Die Tragödie der Insel begann mit der Entdeckung durch Christoph Kolumbus, des im Auftrag der spanischen Krone plündernden Genuesers, am 5. Dezember 1492. Kolumbus und seine Nachfolger rotteten auf der Jagd nach Gold das indigene Urvolk der Arawaks aus und versklavten die übrigen Inselstämme. Als Ersatz für die in großer Zahl sterbenden Ureinwohner, deren Restbestände nach einer Rebellion gegen die Konquistadoren niedergemetzelt wurden, führten die Spanier Anfang des 16. Jahrhunderts schwarze Sklaven aus Afrika ein. Deren Nachfahren bilden heute die Mehrheit der Haitianer. Im westlichen Teil der Insel gründete Spaniens Rivale Frankreich 1665 eine erste Kolonie.

Das Karibik-Eiland blieb allerdings noch jahrzehntelang zwischen Spanien und Frankreich umstritten, bis es 1795 zum Friedensschluss kam. Der Goldstrom versiegte, viele Spanier zogen ab.

Der französische Teil Hispaniolas, damals Saint Domingue genannt, war vor allem aufgrund des Zuckerplantagenbaus und des rücksichtslosen Handels mit schwarzen Sklaven zeitweise die reichste Kolonie Frankreichs, "Perle der Antillen" genannt. Doch immer wieder kam es zu Sklavenaufständen, die grausam niedergeschlagen wurden. Ende des 18. Jahrhunderts erkämpfte der freigelassene Sklave Toussaint L'Ouverture - der "Schwarze Spartakus" - kurzfristig die Unabhängigkeit der Kolonie, er unterlag aber Napoleons Truppen und starb, in Ketten nach Paris verschifft, in französischer Kerkerhaft. 1799-1800 kam es zudem zu einem Bürgerkrieg zwischen Schwarzen und Mulatten. Im November 1803 gelang es dem schwarzen General Jean-Jacques Dessaline, die Franzosen zu besiegen; im Januar darauf erklärte er die Unabhängigkeit unter dem alten Namen Haiti. Das Wort Ayti stammt aus der Sprache des Taino-Volkes und bedeutet "bergiges Land". Damit war Haiti die erste Nation der Welt, die aus einem Aufstand schwarzer Sklaven entstand.

Dessaline verfiel dem Größenwahn, krönte sich zum Kaiser und wurde ermordet; Haiti wurde Republik. Im politischen Chaos wurden die meisten bis dahin noch nicht geflohenen Franzosen niedergemetzelt, die lukrativen Plantagen wurden enteignet und verfielen. Später flossen an ehemalige Plantagenbesitzer so horrende Entschädigungssummen, dass die Wirtschaft Haitis dadurch dauerhaft ruiniert wurde.

Ein Nachfolger Dessalines, der schwarze Freiheitskämpfer Henri Christophe, machte sich zum König und Haiti zur Erbmonarchie; er hielt Hof nach Versailler Vorbild, schuf eine beeindruckende Fülle von Adeligen und ließ von mehr als 200 000 Zwangsarbeitern auf einem 1000 Meter hohen Bergrücken eine der mächtigsten - und überflüssigsten - Festungen der Welt errichten. In den gut 300 Jahren seit der Eroberung durch Kolumbus hatte Hispaniola bis dahin also nur Massaker, Sklaverei, Ausbeutung, Bürgerkrieg und Tyrannen erlebt - die Wurzeln für die spätere Misere.

Erst 1844 erkämpfte sich der Ostteil als Dominikanische Republik die Unabhängigkeit. Dieser Teil Hispaniolas, in dem im Unterschied zu Haiti nicht die Schwarzen, sondern die Mulatten und die Nachkommen der Europäer die Mehrheit stellen, war mehrfach amerikanischen Interventionen unterworfen.

Der muskulöse Einfluss der USA in der Karibik - sie besetzten 1915-1934 auch Haiti - stabilisierte zwar die Dominikanische Republik politisch und wirtschaftlich durch äußeren Zwang. Die anarchische Selbstzerstörung Haitis vermochten die Amerikaner jedoch nicht aufzuhalten. Das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner liegt in der "DomRep" deutlich über 4000 US-Dollar, das Haitis bei kaum mehr als 600 Dollar. Die massive Hilfe Barack Obamas nach dem Erdbeben ist nicht nur uneigennützig - Washington will seinen politischen Einfluss steigern.

Dass sich Haitis demokratische und wirtschaftliche Strukturen nie richtig entwickeln konnten, liegt vor allem an der langen Geschichte brutaler Diktaturen. Die berüchtigtste war jene unter "Papa Doc" François Duvalier. Der ehemalige Landarzt war 1957 an die Macht gekommen und hatte sich zum Diktator aufgeschwungen. Er starb 1971. Als sein Sohn und Thronfolger "Baby Doc" 1986 endlich vertrieben wurde, war das Land politisch, psychisch und wirtschaftlich total ruiniert. Die Duvaliers herrschten mit dem Terror der "Tontons Macoutes" ("Onkelchen Menschenfresser"), einer Art Mischung aus Gestapo und SS. Die Schläger- und Folterertruppe unterdrückte jahrzehntelang jede demokratische Regung. Sie tat dies auch, indem sie die kreolische Variante der uralten afrikanischen Voodoo-Religion instrumentalisierte. Voodoo war von den afrikanischen Sklaven nach Haiti gebracht worden und ist dort ungeachtet des vorherrschenden Katholizismus noch weit verbreitet.

In der schwarzen Magie des Voodoo-Glaubens gibt es die Zombies, wandelnde Untote. Die "Tontons Macoutes" verbreiteten, sie seien Zombies - was die Angst vor ihnen noch steigerte. Der berühmte britische Schriftsteller Graham Greene (1904-1991) beschrieb das Terrorregime der "Tontons Macoutes" in seinem Roman "Die Stunde der Komödianten", der 1967 mit Liz Taylor, Richard Burton, Alec Guinness und Peter Ustinov verfilmt wurde.

Aber auch nach der Vertreibung der Duvaliers kam Haiti nicht zur Ruhe. Militärs und Zivildiktatoren wechselten sich an der Macht ab. Große Hoffnungen weckte - und enttäuschte - der ehemalige Armenpriester Jean-Bertrand Aristide. Der Theologe wurde 1990 mit überwältigender Mehrheit gewählt, 1991 vom Militär entmachtet, aber mithilfe der USA 1994 wieder in die Macht eingesetzt. Die ihm prompt zu Kopf stieg: Selbstbereicherung, Gewaltherrschaft, das Übliche. Aristide terrorisierte die Bevölkerung mit einer den "Tontons" vergleichbaren Truppe - den gefürchteten "Chimeres". Das Wort bezeichnet ein Ungeheuer ebenso wie ein gespenstisches Trugbild. Nach schweren sozialen Unruhen floh Aristide 2004 über Umwege ins südafrikanische Exil und hofft auf eine dritte triumphale Rückkehr. Seitdem gab es sechs Premierminister in Haiti. 9000 Uno-Blauhelme stemmen sich gegen den völligen Zerfall des Landes und gegen die ausufernde Bandenkriminalität - Folge des Zusammenbruchs der staatlichen Ordnung.

Haitis Hauptproblem ist, dass es kaum tragfähige demokratische Traditionen gibt, auf die sich eine funktionierende Zivilgesellschaft stützen könnte. Dafür hat es eine lange Tradition der Gewalt, der Ausbeutung und des Überlebenskampfes jeder gegen jeden. Sie sind der wahre "Fluch der Karibik". 80 Prozent der Haitianer müssen von weniger als zwei Dollar am Tag leben; bereits die Hälfte ist unterernährt.

Zu dem vom Menschen verursachten Elend kommen Naturkatastrophen, die jeden Aufbau wieder zunichte machen - Dürren, Stürme und Erdbeben. 2008 verheerten gleich drei Hurrikane hintereinander den Karibikstaat und töteten 800 Menschen.

Haiti - das Land ohne Hoffnung. In diesem Jahr stehen Präsidentenwahlen an. Wenn das Militär nicht wieder vorher putscht.