Hamburg. Das Haus des Hamburgers Michael Kühn (48), etwas oberhalb von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince gelegen, ist zum Auffanglager geworden. Nachbarn und Bekannte, die beim Erdbeben alles verloren haben, sind bei dem Koordinator der Welthungerhilfe untergekommen. Er habe kaum geschlafen, sagte Kühn gestern Nachmittag am Satellitentelefon. Die Situation sei zunehmend chaotisch, zumal es Nachbeben gibt, zwei allein in der vergangenen Nacht. Kühn: "Langsam kommt bei den Menschen in Kopf, Herz und Bauch an, was sie mit den Augen gesehen haben."

Die Bemühungen der Hilfskräfte seien bislang unkoordinierbar. Die Regierung könne die Aufgabe nicht bewerkstelligen, ebenso wenig die Uno. Kühn: "Die Uno-Koordinatoren sind noch zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Was kein Wunder ist. Der zuständige Koordinator wird ausgeflogen werden müssen. Er hat seine komplette Familie verloren. Die Frau und alle Kinder. Sie waren in einem Supermarkt, der eingestürzt ist."

Er selbst sei viel unterwegs gewesen in den vergangenen Stunden, sagt Kühn. "Ich habe die stationären Hilfsorganisationen aus anderen Ländern besucht, um zu sehen, wie es bei denen aussieht." Mit seinem Land Cruiser ist Kühn gestern durch die wenigen passierbaren Straßen der Stadt, in der er seit zehn Jahren lebt, gefahren, um Diesel für den Stromgenerator aufzutreiben. Was er sah, hat ihn mitgenommen: "Ich bin am Krankenhaus vorbeigefahren. Man kann es kaum aussprechen: Dort werden die Menschen nach drei Kategorien sortiert: tot, fast tot, bald tot. Menschen liegen mit offenen Brüchen auf der Straße. Die Ärzte können sich um sie nicht kümmern." Und überall in den Trümmern lägen noch Tote und Überlebende, die ohne schweres Gerät niemand befreien kann.

Die Mitarbeiter in Kühns Team sind weitgehend unversehrt geblieben. Nicht alle wissen jedoch, was mit ihren Verwandten ist. Vor allem die Slums an den steilen Hängen von Port-au-Prince sind betroffen, berichtet Kühn: "Ganze Hänge sind weggerutscht. Dort stand Haus an Haus, Hütte an Hütte. Es ist jetzt ein Trümmerhaufen." Immer wieder, so sagt der 48-Jährige, der in Billstedt aufgewachsen ist, sieht er Menschen, die versuchen, "ihre" Toten zu beerdigen. Doch selbst das geht nicht. Körper würden zu Stapeln aufgeschichtet. Zudem machen sich Durst und Hunger breit. "Haitianer haben keine Lagerhaltung", sagt Kühn. Doch selbst wenn Hilfslieferungen ankämen, sei das Problem nicht gelöst. "Wie soll das funktionieren, wenn ein oder zwei Lkw mit Reis den Flughafen verlassen? Sie würden sofort geplündert werden. Aber man kann ja auch nicht warten, bis 100 Lkw startbereit sind." Kühns vorläufiges Fazit: "Dies ist keine kurzfristige Katastrophe. Wir brauchen jede Hilfe, die wir bekommen können."