Tote ohne Grab, Verletzte ohne Hilfe, doch es gibt auch Lichtblicke: 23 Menschen wurden lebend aus den Trümmern eines Hotels geborgen.

Port-au-Prince. Bei dem Erdbeben in Haiti könnten nach Angaben der Regierung bis zu 200.000 Menschen ums Leben gekommen sein. „Wir haben bereits etwa 50.000 Leichen geborgen“, sagte Innenminister Paul Antoine Bien-Aime der Nachrichtenagentur Reuters am Freitag. „Wir gehen davon aus, dass es insgesamt zwischen 100.000 und 200.000 Tote sein werden.“ Die genaue Zahl werde man wohl nie kennen. Sollte sich die hohe Zahl bestätigen, wäre das Beben mit der Starke 7 eines der zehn schwerwiegendsten der Geschichte. Es zerstörte am Dienstag einen großen Teil der ohnehin schlechten Infrastruktur des ärmsten Landes der westlichen Hemisphäre. Daher können die Hilfsorganisationen aus 30 Ländern – darunter auch Deutschland - ihre Arbeit nur allmählich aufnehmen.

Präsident Rene Preval bedankte sich für die internationale Hilfe. Der Schaden in seinem Land könne mit dem nach einem 15-tägigen Bombenangriff vergleichen werden, sagte der 66-Jährige der Nachrichtenagentur Reuters in der Hauptstadt Port-au-Prince. Er habe seit zwei Tagen nicht mehr geschlafen. Nach dem Einsturz des Präsidentenpalastes führt Preval seine Regierungsgeschäfte von einer Polizeiwache aus. „Ich habe kein Zuhause, ich habe kein Telefon, das ist jetzt mein Palast“, sagte er und verwies auf das Gebäude. „Wir müssen alles wieder aufbauen.“ Die Zahl der Toten wolle er noch nicht einmal schätzen.

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Unterdessen übertrug Haiti die Kontrolle über den größten Flughafen des Landes an die USA, um die Lieferung der Hilfsgüter zu beschleunigen. Ein Sprecher des US-Außenministeriums erklärte in Washington, dies sei ein vorübergehender Schritt, bis die Regierung in Port-au-Prince wieder dazu in der Lage sei. Heute wird Außenministerin Hillary Clinton in Haiti erwartet. Sie will sich ein Bild von der Lage machen und bei der Evakuierung von US-Bürgern helfen. Clinton kündigte an, dass sie im Flughafenbereich bleiben werde, um die Rettungsarbeiten nicht zu behindern. Die USA haben mehrere Kriegsschiffe nach Haiti entsandt, um die Hilfsmaßnahmen zu unterstützen.

Allerdings ist es in Haiti auch drei Tage nach dem Jahrhundertbeben der internationalen Gemeinschaft trotz riesiger Hilfsbereitschaft kaum gelungen, den Opfern wirksam zu helfen. Aufgebrachte Überlebende türmten in der Hauptstadt Port-au- Prince Leichen zu Barrikaden auf und plünderten vereinzelt Lagerhäuser. Im Fernsehen beklagten sich verzweifelte Menschen bitterlich über die ausbleibende Hilfe.

Allerdings gab es inmitten der Apokalypse auch einzelne Lichtblicke: Internationale Suchtrupps hätten 23 Menschen lebend aus den Trümmern des Hotels Montana geborgen, sagte der chilenische Entsandte Juan Gabriel Valdés. In dem Hotel hatten viele Ausländer gewohnt. Das Fernsehen zeigte auch Bilder von kleinen Kindern, die total verschreckt aber lebend und gesund von Helfern unter tonnenschweren Trümmern gefunden wurden.

Einem australischen Fernsehteam gelang es rund 68 Stunden nach dem Erdbeben, ein kleines Mädchen aus den Trümmern eines Elternhauses zu retten. Das 16 Monate alte Kind habe neben einer Leiche gelegen und geschrien, berichtete ein Mitarbeiter des Kamerateams, David Celestino. Es überlebte dank einer Luftkammer, die sich bilden konnte, weil ein Schrank die eingestürzte Decke abhielt. Die kleine Winnie erlitt nur ein paar Schürfwunden. Ihre Eltern sind tot.

Als Nadelöhr für die Helfer erwies sich erneut der völlig überlastete Flughafen der Hauptstadt Port-au-Prince, wo einige Flugzeuge mit Helfern und Hilfsgütern abgewiesen werden mussten. So musste unter anderem eine mexikanische Maschine mit einer Trinkwasseraufbereitungsanlage wieder umkehren und auch Hilfsgüter aus Panama kamen nicht durch. Unterdessen kamen etwa 150 Überlebende in Paris an. Unter ihnen waren neben Franzosen auch Deutsche, Italiener und weitere Ausländer. Über das Schicksal der meisten der vermuteten etwa 100 Deutschen in Haiti herrschte weiter Unklarheit.

Korrespondenten internationaler Fernsehsender berichteten, selbst in unmittelbarer Nähe des Flughafens seien immer noch traumatisierte Menschen ohne Nahrung, Wasser oder medizinische Hilfe. Über die Lage außerhalb von Port-au-Prince gab es keine verlässlichen Angaben. Vor allem aus dem Süden des Landes wurden schwere Zerstörungen gemeldet. Helfer befürchten wachsende Spannungen und Ausschreitungen, sollten Trinkwasser, Lebensmittel und Medikamente nicht unverzüglich die verzweifelten Überlebenden erreichen. Auch der Leiter der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen in Haiti, Stefano Zannini, sprach von dramatischen Szenen. Den Verletzten müsse dringend geholfen werden. Sie suchten zu Tausenden medizinische Hilfe, sagte Zannini.

Unterdessen kam die von US-Präsident Barack Obama angekündigte massive Hilfsaktion langsam in Fahrt. Am Freitag trafen weitere US- Soldaten in Port-au-Prince ein, wo sie seit dem Vortag den Flughafen kontrollieren. Diese Truppen könnten im Notfall auch für die Aufrechterhaltung der Sicherheit eingesetzt werden, hieß es. Zugleich erreichte der US-Flugzeugträger „Carl Vinson“ Haiti. Das Kriegsschiff hat 5700 Mann Besatzung, 19 Hubschrauber, eine Trinkwasseraufbereitungsanlage und tonnenweise Versorgungsgüter an Bord. Die USA wollten außerdem weitere Schiffe entsenden, darunter Amphibienboote mit Helikoptern sowie ein Lazarettschiff. Am Wochenende sollen schon mehr als 6000 Angehörige der US-Streitkräfte in Haiti oder zumindest in Küstennähe sein. Außenminister Hillary Clinton wollte noch am Samstag ins Krisengebiet reisen.

Insbesondere Kinder sind nach Angaben von UNICEF von Krankheiten wie Typhus und Cholera, Malaria und Dengue-Fieber bedroht. Nach UN-Angaben werden vor allem Ärzte und Krankenschwestern, aber auch Leichensäcke dringend benötigt. Für die Erdbebenopfer in Haiti wollen die Vereinten Nationen 550 Millionen Dollar Soforthilfe bereitstellen. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon kündigte in New York an, das Geld noch am selben Tag von den Mitgliedsländern einzufordern.

Nach Angaben der EU-Kommission sind rund 4000 Gebäude bei dem Beben zerstört worden. Die UN, die in Haiti eine Friedensmission in Haiti mit 9000 Soldaten und Polizisten sowie 3000 zivilen, überwiegend einheimischen Mitarbeitern unterhält, wurden selbst schwer getroffen. Die UN bestätigten den Tod von 37 ihrer Mitarbeiter, weitere etwa 330 würden noch vermisst.

Für viele Verschüttete dürfte jedoch inzwischen jede Hilfe zu spät kommen. Ein Mensch kann nur etwa drei Tage ohne Wasser überleben. In Haiti herrschen Tagestemperaturen um 30 Grad. Noch immer graben die Menschen mit bloßen Händen in den Trümmern nach Überlebenden. Viele Menschen bereiteten sich aus Angst vor Nachbeben oder weil ihre Häuser zerstört sind bereits auf die vierte Nacht in Folge im Freien vor.

Die gigantische Welle der Hilfsbereitschaft hielt weiter an. Neben den internationalen Institutionen spendeten auch hunderttausende Bürger. Schauspieler und Prominente riefen zu Spenden auf oder starteten Aktionen. So kündigte das brasilianische Supermodel Gisele Bündchen (29) eine Spende von 1,5 Millionen Dollar an. Popstar Madonna spendete 250 000 Dollar und rief alle „Freunde und Fans in aller Welt“ auf, möglichst viel zu geben. Hip-Hop-Star Wyclef Jean, der nach der Katastrophe sofort in sein Geburtsland Haiti gereist war, half dort mit seiner eigenen Wohlfahrtsorganisation „Yéle Haiti“. George Clooney bereitete eine große TV-Spenden-Aktion für die Erdbebenhilfe in Haiti vor.