Katastrophenhilfe

Erdbeben: Selbst Rivalen eilen der Türkei zur Hilfe

| Lesedauer: 7 Minuten
Gerd Höhler und Thorsten Knuf
Türkei: Wut über Krisenmanagement könnte Erdogan gefährlich werden

Türkei- Wut über Krisenmanagement könnte Erdogan gefährlich werden

Nach dem Erdbeben in der Türkei wird die Kritik am Krisenmanagement der Regierung immer lauter - sehr zum Ärger von Präsidente Recep Tayyip Erdogan, der sich im Mai zur Wiederwahl stellen will. Er versucht, alle Diskussionen im Keim zu ersticken.

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Experten aus etlichen Nationen beteiligen sich an den Rettungsarbeiten in der Türkei. Die Politik wird erst einmal ausgeblendet.

Athen/Berlin. Nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien haben etliche andere Nationen Rettungstrupps und Hilfsgüter in die Katastrophenregion geschickt. Auch unabhängige Hilfsorganisationen sind im Einsatz.

Die internationale Unterstützung konzentriert sich auf die Katastrophenregion in der Türkei. Die betroffenen Gebiete im Nordwesten des Bürgerkriegslands Syrien hingegen sind nur schwer zu erreichen. Dort trafen am Donnerstag sechs Lastwagen mit Hilfsgütern der Vereinten Nationen ein. Sie kamen nach UN-Angaben aus der Türkei und passieren einzigen noch offenen Grenzübergang Bab al-Hawa. Nach syrischen Angaben schickten bislang unter anderem auch Russland, China, Indien, die Vereinigten Arabischen Emirate und der Iran Hilfsgüter in das Land.

Erdbeben: Deutsche Helfer vor Ort in der Türkei

Aus Deutschland starteten am Donnerstag die ersten Hilfsflüge der Bundeswehr Richtung Türkei: Die drei Flugzeuge vom Typ Airbus A 400M hoben vom niedersächsischen Fliegerhorst Wunstorf in der Nähe von Hannover ab. An Bord waren insgesamt 50 Tonnen Hilfsgüter, darunter knapp 2000 Feldbetten, Schlafsäcke und Decken. Auch Zelte, Heizgeräte und Isomatten wurden in das Krisengebiet gebracht. Die türkische Regierung habe Materialien zur Unterbringung der vom Erdbeben betroffenen Bevölkerung bei der Bundesregierung angefordert, sagte der Präsident des Technischen Hilfswerks, Gerd Friedsam. Zuvor waren schon Teams verschiedener deutscher Hilfsorganisationen in die Türkei geflogen.

Deutschland und der Nato-Partner Türkei sind enge Verbündete, zahlreichen politischen Konflikten und Meinungsverschiedenheiten zum Trotz. Zu den Nationen, die jetzt im Katastrophengebiet Hilfe leisten, gehören aber auch solche, die zuletzt ein eher frostiges Verhältnis zur Regierung des autokratischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan hatten. Das gilt insbesondere für Griechenland, aber beispielsweise auch für Israel und die nordischen Länder. Ein Überblick.

Griechenland

Als eines der ersten Länder schickte schon wenige Stunden nach dem verheerenden Beben vom Montagfrüh eine Hercules-Transportmaschine von Athen in die Südosttürkei. An Bord waren Feuerwehrleute der Katastrophen-Spezialeinheit EMAK, Ärzte und Sanitäter. Inzwischen ist ein weiteres Bergungsteam aus Griechenland im Katastrophengebiet eingetroffen. Die Helfer konnten schon mehrere Menschen aus den Trümmern retten, darunter Kinder.

Beide Länder gehören der Nato an, betrachten sich aber als Konkurrenten, mitunter sogar als Feinde. Das hat historische Gründe, die bis in die Zeit des Osmanischen Reiches zurückreichen. Nach dem führten beide Staaten Krieg gegeneinander, nach der Gründung der Republik Türkei 1923 kam es zu umfangreichen Zwangsumsiedlungen in beide Richtungen. Bis heute gibt es Territorial-Streitigkeiten.

Angesichts der griechischen Hilfe werden jetzt aber Erinnerungen an den August 1999 wach: Damals erschütterte ein schweres Beben die Region um die westtürkische Industriestadt Izmit. Drei Wochen später bebte die Erde in Athen. Erst halfen griechische Rettungsteams in der Türkei, dann kamen türkische Retter nach Griechenland.

Die Katastrophen brachten beide Länder einander näher. Der griechische Außenminister Giorgos Papandreou und sein türkischer Kollege Ismail Cem knüpften neue Gesprächskontakte und vereinbarten vertrauensbildende Maßnahmen. Das Wort „Erdbebendiplomatie“ wurde geboren. Die Ära der Entspannung hielt an, bis der heutige türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan seit 2016 immer feindseligere Töne gegenüber Griechenland anschlug.

Ob sich jetzt ein Fenster für eine Wiederannäherung öffnet, erscheint fraglich. Noch nie in den vergangenen 50 Jahren waren die Fronten so verhärtet wie jetzt. Kurz vor dem Jahreswechsel drohte Erdogan dem Nachbarstaat zum wiederholten Male mit einem Raketenangriff. Auch das politische Personal in Ankara ist ein anderes als 1999. Staatschef Erdogan braucht das Feindbild Griechenland im beginnenden Wahlkampf, um die nationalistische Wählerschaft für sich zu mobilisieren.

Israel

Die verfügen nicht nur über eine schlagkräftige Armee, sondern auch über einen hoch entwickelten Zivil- und Katastrophenschutz. Bereits am Dienstag landeten 150 Such- und Rettungsspezialisten der israelischen Streitkräfte in der Türkei. Die Armee wollte überdies 230 Kräfte entsenden, um ein Feldlazarett im Katastrophengebiet aufzubauen und zu betreiben.

Der jüdische Staat und die muslimisch geprägte Türkei galten lange Zeit als enge Partner: Beide gehören zur westlichen Staatengemeinschaft, mitunter war von den beiden einzigen Demokratien im Nahen Osten die Rede. Besonders die Streitkräfte der Türkei und Israels arbeiteten eng zusammen. 2010 kam es zum Zerwürfnis: Bei der Erstürmung eines starben mehrere türkische Staatsbürger.

Präsident Erdogan bezog im Zuge seiner Hinwendung zur islamischen Welt immer wieder Position für die Palästinenser – sehr zum Ärger der Regierung in Jerusalem. Erst im vergangenen Jahr vereinbarten beide Seiten nach langer Unterbrechung, wieder vollständige diplomatische Beziehungen aufzunehmen.

Schweden und Finnland

Schweden hat bereits angekündigt, in einem ersten Schritt umgerechnet mehr als 600.000 Euro zur Unterstützung der Rettungsarbeiten in der Türkei und Syrien bereitzustellen. Darüber hinaus will das Land Fachleute in das Katastrophengebiet entsenden und Zelte sowie Schutzhütten bereitstellen. Auch Finnland schickt Helfer in die Türkei und stellt überdies ein Million Euro bereit.

Politisch haben beide nordische Länder derzeit ein sehr angespanntes Verhältnis zur türkischen Regierung von Präsident Erdogan: Als Reaktion auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine streben Schweden und Finnland in die Nato. Dem müssen aber alle bisherigen Mitglieder zustimmen – was die Türkei noch nicht getan hat. Erdogan wirft Schweden vor, die Kurden-Organisation PKK zu unterstützen und verlangt die Auslieferung von Oppositionellen. Zuletzt bekräftigte er sein Nein, nachdem rechtsextreme Demonstranten vor der türkischen Botschaft in Stockholm einen Koran verbrannt hatten.

Was den Nato-Beitritt Finnlands betrifft, ist Erdogan inzwischen konzilianter. Die beiden nordischen Länder würden es aber bevorzugen, gemeinsam dem Militärbündnis beizutreten.

Ukraine

Die Ukraine befindet sich in einem Abwehrkampf gegen die russische Invasion. Auch hier sind etliche Städte zerstört, jeder Helfer wird gebraucht. Trotzdem hat die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj beschlossen, 87 Rettungsspezialisten mitsamt Ausrüstung in die türkische Erdbeben-Region zu entsenden.

Das Verhältnis der Ukraine zur Türkei ist nicht frei von Spannungen. Die Türkei vermeidet es, sich angesichts des russischen Angriffskriegs eindeutig auf die Seite Kiews zu schlagen. Sie hat zwar Waffen an die Ukraine geliefert, beteiligt sich aber nicht an westlichen Sanktionen gegen Russland. Präsident Erdogan bietet sich als Vermittler an, sollte es zu Friedensverhandlungen kommen. Ein Abkommen über den Export von ukrainischem Getreide über das Schwarze Meer konnte Erdogan bereits anbahnen.

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