Berlin/Kirikhan. Paul-Philipp Braun sucht nach dem Erdbeben in der Türkei nach den Verschütteten. Wie er vorgeht – und auf wen er sich verlassen muss.

Noch immer sind die Rufe da. Oder das leise Weinen. Es ist das Geräusch der Hoffnung, an das sich die Menschen nach dem schweren Erdbeben in der Türkei klammern. Angehörige, die noch immer Väter, Mütter, Kinder unter den Trümmern hören. Oder hoffen, etwas zu hören. Manchmal, sagen die Helfer, ist das nicht so eindeutig.

Dann kommen die Angehörigen zu Paul-Philipp Braun (26) und seinem Team: mehr als 40 Rettungskräfte, darunter Sanitäter wie Braun, zwei Sicherheitsleute. Und das Wichtigste: sieben Hunde. Am Montagabend ist die Gruppe von ISAR Germany gestartet, seit Dienstag ist sie in der Region.

Erdbeben in der Türkei: Hören die Retter ein Lebenszeichen, schicken sie die Hunde

Hören die Retter noch ein Lebenszeichen unter Beton, Schutt und Stahl, dann schicken sie einen Hund auf die Trümmer. Der schnüffelt und sucht. Danach noch ein zweiter Hund – zur Sicherheit, auch wenn der erste Hund schon „anschlägt“ und bellt. Manchmal können die Tiere die Witterung verlieren oder getäuscht werden, etwa durch einen Windstoß.

Entdecken die Hunde ein Zeichen eines Menschen, der unter Schutt begraben liegt, dann starten die Bergungsspezialisten. Sie horchen zunächst mit speziellen Geräten nach Schallwellen, nutzen auch Kameras an einem langen, steifen Seil, das wie ein Endoskop Bilder zwischen den Steinen und Stahlträgern aufnimmt und nach oben sendet. Auch ein „Bio-Radar“ hat das Team um Braun dabei, das Herzfrequenzen orten kann.

Als Nächstes kommen die „Schaden­stellenberater“ der Truppe ins Spiel. Sie suchen nach dem besten Weg durch die Trümmer zu den Verschütteten. Dann kommt das schwere Gerät zum Einsatz, das das Team ebenfalls mit aus Deutschland in die Türkei gebracht hat: pneumatische Hebekissen, die Betonplatten per Hochdruck auseinanderhebeln können, aber auch Sägen, Stemmen, Meißel.

Bergungsspezialist Paul-Philipp Braun hilft  nach dem Erdbeben in der Türkei.
Bergungsspezialist Paul-Philipp Braun hilft nach dem Erdbeben in der Türkei. © isar | isar

36 Stunden nach dem Erdbeben retten die Helfer eine Frau aus dem Schutt

An ihrem ersten Tag im Einsatz in der Türkei hat das ISAR-Team drei Menschen retten können, trotz Temperaturen am Gefrierpunkt in der Nacht. Eine Frau, Mitte 60, eingeklemmt hinter einem Kühlschrank. Die Helfer mussten den Kühlschrank zersägen, dann konnten sie die Frau befreien. Sie hat sich am Bein verletzt, ist unterkühlt, kommt in ein Krankenhaus. Doch: Die Frau lebt. 36 Stunden nach dem Beben. Nach 36 Stunden unter Schutt.

Mehr als 11.000 Menschen haben bei der Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien ihr Leben verloren, mehr als 53.000 Menschen wurden verletzt. Die Opferzahl schnellte in den vergangenen Stunden nicht zuletzt deshalb in die Höhe, weil sich deutlich mehr Rettungsteams an der Bergung beteiligen als direkt nach der Katastrophe.

Braun und sein Team aus Deutschland sind seit Dienstagmorgen in der Türkei. So wie viele Tausende Helfer, aus der Türkei, aus Deutschland und etlichen anderen Staaten. Laut den Behörden vor Ort sind 36 Länder an den Rettungsarbeiten beteiligt. Rund 100.000 Notfallbetten und gut 50.000 Zelte hat die Türkei organisiert, 1000 Krankenwagen, 5000 Helfer aus dem Gesundheitssektor. Am Dienstagabend wurden 22.000 Menschen in Krankenhäusern behandelt, 8000 konnten noch lebend geborgen werden.

Paul-Philipp Braun mit einem der Hunde des Rettungsteams.
Paul-Philipp Braun mit einem der Hunde des Rettungsteams. © isar | isar

Das Team um Retter Braun kommt am Dienstagmorgen in der Türkei per gecharterter Maschine aus Köln an. Einen Tag lang versuchen sie in die besonders betroffenen Regionen vorzudringen, wollen in die türkische Stadt Kirikhan, nahe an der syrischen Grenze, keine 100 Kilometer entfernt von dem durch den Krieg zerbombten Aleppo. Hintergrund: Geologe warnt vor Mega-Beben in Istanbul

Hoffnung nach Erdbeben: Es gibt Verschüttete, die sechs Tage unter Trümmern überleben

„Viele Straßen haben Risse. Je näher wir an die Stadt kamen, desto zerstörter waren die Häuser.“ Sie müssen Umwege nehmen, Querstraßen suchen, irgendwie durchkommen. „Es ist ein Trümmermeer“, sagt Braun. Zehnstöckige Wohnhäuser sind zusammengefallen wie Kartenhäuser, liegen am Boden, Etage über Etage, wie zusammengefaltet.

Wie groß ist die Chance, dass noch Menschen unter dem Schutt leben? „Wir haben bei einem anderen Einsatz schon einmal eine Person nach sechs Tagen aus den Trümmern geholt“, erzählt Braun. Wenn der Mensch in einer Luftkammer feststeckt, steigen seine Überlebenschancen. Wenn er dort Wasser hat, noch einmal mehr. Hier in der Türkei, bei eisigen Temperaturen, entscheidet über das Leben auch, was der Mensch trägt, wenn er unter Trümmern liegt. Das heftige Beben war in der Nacht, die allermeisten Menschen lagen in ihren Betten, trugen nur wenig Kleidung. Das macht die Lage im Erdbebengebiet besonders dramatisch.

Bergungsarbeiten in der Türkei: Nachbeben sorgen weiter für Risiken

72 Stunden, sagt Helfer Braun, sei die Regel. In diesem Zeitraum ist die Chance noch gut, Menschen zu retten. Eine Grenze sei bei 100 Stunden erreicht. Danach sinkt die Wahrscheinlichkeit deutlich. Noch aber glaubt Braun: „Die Rettungschancen sind gut.“ Zwar macht die Kälte auch den Helfenden zu schaffen – aber immerhin hat es bisher nicht geschneit. Schnee macht Beton rutschig, gefährdet die Trupps auf den Trümmern.

Die Häuser sind wie Kartenhäuser zusammengefallen.
Die Häuser sind wie Kartenhäuser zusammengefallen. © dpa | Ahmet Akpolat

Zweimal erlebten Braun und das ISAR-Team in diesen ersten Tagen im Krisengebiet bisher Nachbeben. „Ein schwächeres, ein etwas stärkeres.“ Sobald die Erde bebt, verlassen die Rettungstrupps sofort die Trümmer, sammeln sich an vorher zugewiesenen „Sicherheitspunkten“. Im „Trümmerschatten“. Dort, wo sie am besten vor dem Einschlag von Mauern und Steinen gesichert sind. In der Türkei sind nicht nur die Hochhäuser eine Gefahr, sondern auch einstürzende Minarette der Moscheen.