Libyens Machthaber al-Gaddafi hat sein tagelanges Schweigen gebrochen und macht deutlich, die Macht nicht freiwillig abzugeben.

Tripolis/Los Angeles. Die Kontrolle über die Lage in Libyen scheint zunehmend zu schwinden. Am Montagabend distanzierten sich weitere Diplomaten von dem Regime aus Protest gegen die Gewalt der Sicherheitskräfte gegen Regierungsgegner, dazu kam, dass sich Soldaten weigerten, weiter auf Demonstranten zu schießen. Machthaber Muammar al-Gaddafi machte in einem wirren TV-Auftritt deutlich, dass er freiwillig die Macht nicht abgeben werde.

Unterdessen spitz sich die Lage in dem für ausländische Medien abgeschotteten nordafrikanischen Land weiter zu. Ungeachtet der Versuche von regimetreuen Sicherheitskräften und Söldnern, die Proteste blutig niederzuschlagen, weiteten diese sich weiter aus. Regierungsgegner sollen mehrere Städte vor allem im Osten des nordafrikanischen Landes inzwischen unter ihrer Kontrolle haben. Wie die in Paris ansässige Internationale Menschenrechtsföderation berichtet, sollen in der zweitgrößten Stadt Bengasi ganze Militäreinheiten desertiert sein. Unterschiedlichen Angaben zufolge wurden seit Beginn der Proteste vor einer Woche bis zu 400 Menschen getötet.

Berichte des arabischen Fernsehsenders al-Dschasira, wonach die Luftwaffe Demonstranten in Tripolis und Bengasi angegriffen habe, wies Gaddafis Sohn Seif el Islam allerdings zurück. Die Streitkräfte hätten Munitionslager bombardiert, die weit außerhalb bewohnter Stadtgebiete lägen, aber keine Städte, wurde er vom Staatsfernsehen zitiert.

Aus Protest gegen die Gewalt kündigten mehrere Mitarbeiter der libyschen UN-Vertretung in New York Gaddafi die Gefolgschaft. In einer Erklärung riefen sie die libysche Armee auf, den Revolutionsführer und sein Regime zu entmachten. Nach Auffassung des stellvertretenden UN-Botschafters Ibrahim Dabbaschi ist das Ende des Machthabers nur noch eine "Frage von Tagen“.

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Dabbaschi und seine Kollegen forderten, Gaddafi wegen der von ihm zu verantwortenden Verbrechen vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen. Sie warfen ihm unter anderem "Völkermord“ an seinem eigenen Volk vor. Zuvor hatte bereits der einflussreiche katarische Theologe Scheich Jussef El Kardawi die libysche Armee zur Ermordung ihres Oberbefehlshabers aufgefordert.

Nach hartnäckigen Gerüchten, Gaddafi habe das Land bereits verlassen und sich nach Venezuela abgesetzt, brach der 68-Jährige sein tagelanges Schweigen und meldete sich im Fernsehen selbst zur Wort: 22 Sekunden lang. Er wolle damit zeigen, dass er sich noch in Tripolis befinde und nicht in Venezuela, sagte er in einer "Live“-Übertragung aus seiner Residenz, bevor er in einen Wagen stieg, um nach eigenen Angaben "die Jugend auf dem Grünen Platz“ zu besuchen.

Im Ausland nimmt die Empörung über die zügellose Gewalt gegen die Demonstranten weiter zu. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon kündigte für Dienstagmorgen (Ortszeit) eine Krisensitzung des UN-Sicherheitsrats zur Lage in Libyen angekündigt. Er habe selbst 40 Minuten lang am Telefon mit Gaddafi gesprochen, sagte Ban in Los Angeles. Dabei habe er den Machthaber aufgefordert, die Gewalt zu beenden sowie die Rechte der Demonstranten zu respektieren. Auch US-Außenministerin Hillary Clinton forderte die libysche Führung auf, das "nicht hinnehmbare Blutvergießen“ sofort zu beenden.

Fast alle EU-Staaten raten ihren Bürgern inzwischen von Reisen nach Libyen ab. Mehr und mehr Länder planen zudem die Evakuierung von Staatsbürgern aus dem nordafrikanischen Land. Ausländische Unternehmen ziehen bereits Personal aus Libyen ab. (dpa/abendblatt.de)

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Kampfjets gegen das eigene Volk

Es ist die größte Herausforderung für Libyens Diktator Muammar al-Gaddafi seit seiner Machtübernahme im Jahre 1969. Erst regte sich in der zweitgrößten Stadt Bengasi der Widerstand gegen sein Regime - ermutigt von den erfolgreichen Revolutionen in Tunesien und Ägypten. In Bengasi haben Polizei und Armee offenbar die Kontrolle verloren; Teile der Truppe sollen zu den Demonstranten übergelaufen sein.

Jetzt aber ist der Funke der Rebellion auch auf die 1000 Kilometer entfernte Hauptstadt Tripolis übergesprungen. Das "Haus des Volkes", in dem das libysche Parlament zu tagen pflegt, stand gestern in Flammen. Der Sender al-Dschasira meldete, eine aufgebrachte Menge habe mehrere Polizeiwachen gestürmt und in Brand gesetzt. Auch das Gebäude des libyschen Olympischen Komitees, das vom Gaddafi-Sohn Mohammed geleitet wird, brannte lichterloh.

Am Abend sollen Kampfflugzeuge im Gegenzug die Protestierenden in Tripolis bombardiert haben. Ein Mann berichtete im Fernsehsender al-Dschasira, dass es viele Tote gebe. Jeder, der sich bewege, werde beschossen. "Was wir heuten sehen, ist unvorstellbar", sagte der Einwohner.

Gaddafis Sohn Saif al-Islam hatte am Vortag im Fernsehen vor einem Bürgerkrieg gewarnt und gedroht, das Regime werde "bis zum letzten Mann und selbst bis zur letzten Frau kämpfen".

Die Rede ist von rund 400 Toten. Entsetzt über das Blutbad, erklärte Libyens Justizminister Mustafa Abdul Dschalil seinen Rücktritt. Auch Libyens Vertreter bei der Arabischen Liga, der Botschafter in Indien sowie ein ranghoher libyscher Diplomat in China, der gleich das gesamte Diplomatische Korps Libyens zum Rücktritt aufforderte, legten ihre Ämter nieder.

Der Vorsitzende der Arabischen Liga, der frühere ägyptische Außenminister Amr Mussa, rief zu einem sofortigen Ende der Gewalt in Libyen auf. Ähnlich äußerten sich westliche Politiker von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) über die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton bis zu US-Außenministerin Hillary Clinton. Deren deutscher Amtskollege Guido Westerwelle (FDP) rief die rund 500 Bundesbürger in Libyen dazu auf, das Land zu verlassen. Unternehmen wie Siemens und RWE begannen ihre Mitarbeiter auszufliegen.

In Tunesien und in Ägypten hatten sich die Streitkräfte schließlich geweigert, auf die Demonstranten zu schießen. Doch die Armeen dieser Staaten genossen eine gewisse unabhängige Sonderrolle im jeweiligen Machtsystem. Die libyschen Sicherheitskräfte hingegen sind weitgehend eine Prätorianergarde von Muammar al-Gaddafi und seinen Söhnen. Zudem hat das Regime nach Berichten des Internetportals al-Arabija skrupellose Söldner aus Schwarzafrika angeworben und in libysche Uniformen gesteckt. Während die Führung der Sicherheitskräfte keine Rücksicht nimmt, weil sie im Fall eines Regimesturzes Sorge um das eigene Schicksal haben muss, feuern die Söldner auf die Menschen, solange sie dafür bezahlt werden.

Der libysche Oppositionelle Ashour Shamis meinte im Londoner "Guardian": "Für Gaddafi heißt es jetzt: töten oder getötet werden." Er sei nun auf den Todesstoß gegen die Rebellen aus.