Flüchtlinge berichten von Mord und Anarchie. Merkel: Gaddafi hat seinem Volk den Krieg erklärt. Berlusconi telefoniert mit dem Diktator.

Tripolis/Berlin. Die Minister laufen zu den Demonstranten über, der vollends verwirrte Staatschef Muammar al-Gaddafi will wie ein Märtyrer sterben – und Libyens Uno-Botschafter warnt ernsthaft vor einem Völkermord in seinem Land. Die Unruhen und der Aufstand in Libyen wecken schlimmste Befürchtungen über Gewaltexzesse und Bürgerkrieg in einem wichtigen Ölförderland. Gaddafi will die Proteste blutig niederschlagen. Parlamentspräsident Mohamed Swei sagte in Tripolis, in den meisten großen Städten sei wieder Ruhe eingekehrt. Libyens Uno-Botschafter Ibrahim Dabbaschi malte das Szenario eines Völkermords an die Wand und berichtete von neuer Gewalt im Westen des Landes.

Gaddafi sagte in seiner Rede im Staatsfernsehen, er wolle Libyen „Haus für Haus säubern“. Er forderte die Demonstranten auf: „Legt eure Waffen sofort nieder, sonst gibt es ein Gemetzel.“ Den „Rebellen“ drohte er mit einer blutigen Niederschlagung der Proteste „ähnlich wie auf dem Tiananmen-Platz“ in Peking im Jahr 1989. Er werde als „Revolutionsführer“ im Land bleiben und sei bereit, als „Märtyrer“ zu sterben. „Ich werde bis zum letzten Tropfen meines Blutes kämpfen“, sagte er.

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Innenminister Abdel Fatah Junes gab seinen Rücktritt bekannt und stellte sich hinter die Protestbewegung. „Als Antwort auf die Revolution gebe ich hiermit meinen Rückzug von allen Funktionen bekannt“, sagte Junes im Fernsehsender al-Dschasira. „Ich rufe die bewaffneten Sicherheitskräfte auf, auf die Forderungen des Volkes zu hören.“ Auch Justizminister Mustafa Abdel Dschalil legte bereits sein Amt nieder. Innenminister Junes war von Gaddafi für tot erklärt worden. Er sagte, ein Anhänger von Gaddafi habe versucht, ihn zu erschießen. Der Schütze habe ihn jedoch verfehlt und stattdessen einen Verwandten des Ministers verletzt.

Bei den seit einer Woche andauernden Protesten in Libyen sind offiziellen Angaben zufolge mindestens 300 Menschen getötet worden. Bei den Toten handele es sich um 189 Zivilisten und 111 Militärangehörige, teilte ein Sprecher des Innenministeriums mit. Die meisten Opfer habe es mit 104 Zivilisten und zehn Militärs in der zweitgrößten Stadt Bengasi gegeben, wo die Unruhen begonnen hatten. Es handelt sich um die ersten offiziellen Zahlen seit Beginn des Volksaufstands am 15. Februar. Menschenrechtler beziffern die Zahl der Toten auf bis zu 400.

Der Uno-Sicherheitsrat verurteilte das gewaltsame Vorgehen der libyschen Sicherheitskräfte gegen Demonstranten und forderte ein sofortiges Ende der Gewalt. Diejenigen, die für die Angriffe verantwortlich seien, müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte, Gaddafi habe „quasi seinem eigenen Volk den Krieg erklärt“. US-Außenministerin Hillary Clinton verurteilte ein „völlig inakzeptables Blutbad“. Die Arabische Liga will Libyen vorerst von Treffen der Organisation ausschließen, solange die Behörden nicht auf die Forderungen der Demonstranten reagieren und die Sicherheit des Volkes gewährleisten.

Zwei Transall-Maschinen der Bundeswehr, die Tripolis am späten Dienstagabend mit Bundesbürgern an Bord verlassen hatten, machten über Nacht Zwischenstation in Malta. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes sollen sie im Laufe des Tages nach Deutschland fliegen. Am Mittwoch werde zudem eine weitere Sondermaschine der Lufthansa Ausreisewillige aus Libyen abholen. Auch weitere Transall-Flüge seien geplant, hieß es in Berlin.

Tausende ägyptische Gastarbeiter verlassen Libyen auf dem Landweg. An der ägyptischen Grenze angekommen, berichteten viele von Mord, Plünderungen und kompletter Anarchie im östlichen Teil des Landes, in dem Gaddafis Truppen kaum noch Präsenz zeigten. Die Gegner des Staatschefs kontrollieren nach eigenen Angaben mittlerweile 90 Prozent des Landes. Viele Armee-Einheiten und Sicherheitskräfte seien übergelaufen, sagten ranghohe libysche Funktionäre, die auf Distanz zu Gaddafi gegangen sind, der Nachrichtenagentur dpa.

Der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi – ein Freund Gaddafis – telefonierte am Dienstag mit dem libyschen Staatschef. Dabei habe Berlusconi die blutige Gewalt angesprochen und betont, wie wichtig eine friedliche Lösung und Mäßigung seien, um die Gefahr eines Bürgerkrieges in Libyen zu vermeiden, hieß es in Rom.

Mit Material von dpa/dapd