Der Innenminister Junis tauchte in einem Interview bei Al-Arabiya auf. Am Nachmittag hatte Libyens Staatschef Gaddafi ihn für tot erklärt.

Tripolis/Berlin. Der von Staatschef Muammar al-Gaddafi totgesagte Innenminister Libyens hat sich nach eigenen Angaben "der Revolution angeschlossen“. In einem Interview des arabischen Nachrichtensenders Al-Arabiya appellierte Abdulfattah Junis an die Armee des nordafrikanischen Landes, auf die Forderungen der Demonstranten einzugehen. "Unser Ziel ist es, die Jugend von Tripolis zu unterstützen, damit die Stadt wie zuvor Bengasi befreit wird“, sagte der Innenminister in dem Interview am Dienstag. Gaddafi hatte am Nachmittag in einer Fernsehansprache behauptet, Aufständische in der östlichen Stadt Bengasi hätten den Innenminister getötet. Junis sagte, die Rede Gaddafis habe ihn "enttäuscht und schockiert“. Er habe den Sicherheitskräften nicht befohlen, auf die Demonstranten zu schießen. Den Angehörigen der Hunderten von Todesopfern drückte er sein Beileid aus. "Ich habe Gaddafi gebeten, keine Flugzeuge zu schicken. Ich habe ihn angerufen. Jetzt reden wir allerdings nicht mehr miteinander. Ich habe mich der Revolution angeschlossen.“

Staatschef Gaddafi droht in seiner Rede mit brutaler Gewalt

Der libysche Staatschef Muammar el Gaddafi klammert sich weiterhin mit allen Mitteln an die Macht und hat den Demonstranten unverhohlen mit brutaler Gewalt gedroht. In einer Rede im Staatsfernsehen kündigte er am Dienstag an, Libyen "Haus für Haus zu säubern“, und bezeichnete die Regierungsgegner als "Ratten“. "Legt Eure Waffen sofort nieder, sonst gibt es ein Gemetzel“, rief der 68-Jährige. Den "Rebellen“ drohte er mit einer blutigen Niederschlagung der Proteste "ähnlich wie auf dem Tiananmen-Platz“ in Peking im Jahr 1989. Er werde als "Revolutionsführer“ im Land bleiben und sei bereit, als "Märtyrer“ zu sterben. "Ich werde bis zum letzten Tropfen meines Blutes kämpfen“, sagte der libysche Machthaber.

Erstmals seit Beginn der Proteste vor einer Woche wandte sich Gaddafi live an das Volk; in der Nacht zuvor hatte das Fernsehen lediglich ein wenige Sekunden langes Statement von ihm ausgestrahlt. In der Ansprache unterstrich er seine impulsiven Aussagen mit heftigen Gesten, mal ballte er die Faust, mal hob er drohend einen Finger. "Muammar Gaddafi ist für immer Revolutionsführer“, sagte er. "Das ist mein Land, das Land meiner Eltern und Vorfahren.“ Zu den Forderungen nach seinem Rücktritt erklärte er, er habe gar keinen offiziellen Posten, von dem er zurücktreten könne. Gaddafi hatte sich im September 1969 unblutig an die Macht geputscht und wenige Jahre später den "Staat der Massen“ ausgerufen. Da sich dieser in der Theorie selbst regiert und keinen Staatschef braucht, ließ sich Gaddafi offiziell auch nie so nennen. "Das libysche Volk steht hinter mir“, sagte Gaddafi und forderte seine Anhänger auf, am Mittwoch für ihn zu demonstrieren. Die Armee und die Polizei des Landes forderte er auf, den Aufstand niederzuschlagen.

Die Proteste weiteten sich unterdessen am Dienstag weiter aus. Mehrere Städte vor allem im Osten des Landes sollen inzwischen unter Kontrolle der Regierungsgegner stehen. Offiziellen Angaben zufolge, die am Dienstagabend verbreitet wurden, starben bei den Protesten bislang 300 Menschen, darunter 58 Soldaten.

Angela Merkel sagte in Berlin, Gaddafi habe "quasi seinem eigenen Volk den Krieg erklärt“. Sie forderte die libysche Regierung auf, die Gewaltanwendung zu beenden und drohte andernfalls mit Sanktionen. Aus Protest gegen die Gewalt kündigten nach zahlreichen Botschaftern auch mehrere Mitarbeiter der libyschen UN-Vertretung in New York Gaddafi am Dienstag die Gefolgschaft auf. Die Arabische Liga will Libyen vorerst von Treffen der Organisation ausschließen, so lange die Behörden nicht auf die Forderungen der Demonstranten reagieren und die Sicherheit des Volkes gewährleisten. Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi telefonierte unterdessen mit Gaddafi und forderte ihn nach Angaben der Nachrichtenagentur Ansa zu einer friedlichen Lösung auf.

In groß angelegten Rettungsaktionen begannen zahlreiche Staaten, ihre Bürger aus Libyen zu holen. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes verließen am Dienstagabend zwei Bundeswehrmaschinen und eine Sondermaschine der Lufthansa mit insgesamt rund 350 "deutschen und europäischen Staatsangehörigen“ Tripolis in Richtung Malta. Für Mittwoch seien weitere Flüge geplant, um die verbliebenen Deutschen aus Libyen zu holen. Auch andere EU-Länder, darunter Frankreich und Italien, schickten am Dienstag Flugzeuge nach Libyen.

Westerwelle droht mit Sanktionen

Außenminister Guido Westerwelle (FDP) hat der libyschen Staatsführung mit der raschen Verhängung von Sanktionen gedroht. „Sollte Libyen weiter mit Gewalt gegen das eigene Volk vorgehen, werden Sanktionen unvermeidlich sein“, sagte Westerwelle in Berlin. „Die Menschen sterben, weil sie für legitime Forderungen auf die Straße gehen. Das sind empörende Vorgänge in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, die wir nicht hinnehmen können.“ Nach Angaben aus Regierungskreisen wird unter anderem an ein Einreiseverbot gegen die Familie von Staatschef Muammar al-Gaddafi sowie an das Einfrieren von Vermögenswerten der libyschen Regierung im Ausland gedacht.

Bei einem Treffen der EU-Außenminister am Montag in Brüssel war die Verhängung von Sanktionen vor allem am Widerstand Italiens gescheitert. „Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich nicht alle derzeit in der gleichen Weise äußern wollen“, sagte Westerwelle. Umso wichtiger sei es für die anderen, eine „klare Sprache“ zu finden. Italien unterhält enge Wirtschaftskontakte zu Libyen und fürchtet zudem einen neuen Flüchtlings-Exodus aus Nordafrika. Auf einen Termin für die Verhängung von Sanktionen legte sich Westerwelle nicht fest. Deutsche Alleingänge soll es keine geben. In Berlin wird aber auch ein Beschluss ohne Italien für möglich gehalten.

Endzeitstimmung in Libyen

Augenzeugen berichteten am Dienstag von einem immer brutaleren Vorgehen bewaffneter Truppen Gaddafis gegen die Protestbewegung in der Hauptstadt. Bei den Milizen handelt es sich dem Vernehmen nach um libysche Gefolgsleute Gaddafis und ausländische Söldner. Diese hätten im dem Armenviertel Faschlum, einer Hochburg der Opposition, die ganze Nacht Angst und Schrecken verbreitet und auf „jeden, der sich bewegt“ mit scharfer Munition geschossen, berichtete ein Bewohner der Nachrichtenagentur AP.

„In den Straßen liegen Leichen. Wer verletzt ist und blutet, kann keine Klinik und keinen Krankenwagen finden, um gerettet zu werden“, sagte der Informant, der am Montagabend aus dem Viertel floh. „Niemand darf mehr dort hinein, und falls doch jemand reinkommt, wird er erschossen.“ Der Oppositionsaktivist Mohammed Ali sagte, Gaddafi-Anhänger hätten auf Krankenwagen geschossen. Einige Demonstranten seien auf den Straßen verblutet. Westliche Medien können derzeit nicht direkt aus Libyen berichten. Die Angaben konnten von unabhängiger Seite nicht bestätigt werden.

Deutschland hat die schärfste Reisewarnung herausgegeben

Gaddafi soll sich in einer Kaserne in Tripolis verschanzt haben. Der abtrünnige Diplomat Abdulmoneim al-Honi sagte der Nachrichtenagentur dpa in einem Telefoninterview: „Er ist jetzt in Bab al-Asisijah. Das Gelände dort ist sechs Quadratkilometer groß. Außer diesem Stützpunkt gibt es jetzt nur noch zwei Kasernen, die von Gaddafi und seinen Anhängern gehalten werden.“ Al-Honi hatte Anfang dieser Woche aus Protest gegen die Gewalt des Regimes seinen Dienst als Vertreter Libyens bei der Arabischen Liga in Kairo quittiert. Eine der noch von Gaddafi-Getreuen kontrollierten Militärstütztpunkte sei die Al-Saadi-Kaserne östlich von Sirte, der Geburtsstadt des Staatschefs. „Der Rest des Landes wird jetzt von der Jugend kontrolliert“, sagte Al-Honi.

Außenminister Guido Westerwelle (FDP) kündigte die Evakuierung deutscher Staatsangehöriger aus Libyen an. „Es sollen alle raus und wir helfen dabei“, sagte er im ZDF. Das Auswärtige Amt habe eine Reisewarnung der höchsten und schärfsten Stufe ausgegeben. Westerwelle sprach sich zudem offen für einen demokratischen Wandel in Libyen aus.

Der Ölpreis steigt und steigt

Unterdessen lässt die Krise in Libyen den Ölpreis weiter klettern. Der Preis für ein Barrel (159 Liter) der für Europa wichtigsten Sorte Brent stieg in London am Dienstag um 1,26 Dollar auf 107 Dollar, den höchsten Preis seit mindestens zweieinhalb Jahren. In Singapur kletterte der Preis für ein Barrel der wichtigsten US-Sorte um 7,34 Dollar auf 93,54 Dollar. Libyen ist einer der größten Erdölproduzenten der Welt und hat mit 5,7 Milliarden Tonnen die größten nachgewiesenen Reserven in ganz Afrika. Ausländische Ölfirmen haben wegen der politischen Unruhen bereits Personal evakuiert. Auch deutsche Öl- und Gasfirmen wie DEA oder Wintershall sind in dem Mittelmeerland. Der spanische Ölkonzern Repsol stellte am Dienstag seine Arbeit in Libyen ein.

Die EU-Grenztruppe Frontex ist in Alarmbereitschaft

Wenn Libyen seine Küsten nicht mehr kontrolliere, stehe Europa „eine Welle illegaler Einwanderer bevor, die es weder aufhalten noch stoppen können wird“, sagte ein EU-Diplomat. „Die Lage in Libyen ist besorgniserregend“, sagte der Sprecher von EU-Innenkommissarin Cecila Malmström. Bislang seien aber auf der unweit der libyschen Küste gelegenen italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa keine aus Libyen kommenden Flüchtlinge gelandet.

In Italien schrillen angesichts der bürgerkriegsähnlichen Zustände in Libyen die Alarmglocken. Regierungschef Silvio Berlusconi berief eine Krisensitzung ein, um mit Teilen seines Kabinetts die Folgen eines Flüchtlingsansturms zu beraten. „Das ist nicht nur ein italienisches Problem, es ist ein europäisches“, hieß es aus Regierungskreisen in Rom. Schon nach dem Sturz des Präsidenten in Tunesien landeten innerhalb weniger Tage mehr als 5000 Flüchtlinge auf Lampedusa. Würde die Grenzsicherung in Libyen zusammenbrechen, könnte das nur das Vorspiel eines Dammbruchs gewesen sein, so die Befürchtung in Rom. Über Libyen versuchen jährlich geschätzte zwei Millionen Menschen, nach Europa zu gelangen. Die Küste des Landes ist 2000 Kilometer lang, mit sechs Nachbarstaaten teilt Libyen außerdem Grenzen von rund 4000 Kilometer Länge.

Am Einsatz der europäischen Grenzschutztruppe Frontex in Italien ist Deutschland mit Hubschraubern und Experten beteiligt. Die EU-Kommission gab am Dienstag die Einzelheiten der Mission „Hermes“ bekannt, die Rom nach der Flüchtlingswelle aus Tunesien angefordert hatte. Insgesamt werden vier Flugzeuge, zwei Helikopter und zwei Schiffe samt Besatzung sowie zusätzlich 30 Experten zur Grenzüberwachung und zur Betreuung der Flüchtlinge an die italienischen Küsten geschickt, wie Kommissionssprecher Michele Cercone erklärte. Die Bundesregierung hat zwei hochseeflugtaugliche Helikopter vom Typ Puma samt Luft- und Bodenpersonal angeboten, wie ein Sprecher des Innenministeriums bestätigte. Zudem sollen zwei Fachbeamte bei der Aufnahme der Flüchtlinge beraten. Die Hubschrauber könnten binnen weniger Tage nach Lampedusa aufbrechen, hieß es. Derzeit warte man aber noch auf den genauen Einsatzplan der Frontex-Zentrale in Warschau. (dpa/dapd/AFP)