Menschenrechtler sprechen von 230 Toten bislang. Deutsche Firmen fliegen Mitarbeiter aus. Der Verbleib von Staatschef Gaddafi ist ungewiss.

Tripolis/Brüssel. Der libysche Justizminister ist einem Medienbericht zufolge aus Protest gegen die Unterdrückung von Demonstrationen zurückgetreten. Mustafa Mohamed Abud al-Dscheleil habe wegen des exzessiven Einsatzes von Gewalt seinen Rücktritt erklärt, berichtete die libysche Zeitung „Kurina“. Die Zeitung erklärte, sie habe selbst mit dem Minister am Telefon gesprochen. Eine offizielle Stellungnahme zu dem Bericht gab es zunächst nicht. Seit mehreren Tagen gibt es in Libyen Proteste gegen Machthaber Muammar al-Gaddafi, der das Land seit Jahrzehnten beherrscht. Vor allem in der ostlibyschen Stadt Benghasi gab es viele Tote.

Wegen der Unruhen in Libyen holen zahlreiche internationale Großkonzerne ihr Personal aus dem nordafrikanischen Land zurück. So zieht etwa die deutsche BASF-Tochter Wintershall einen Teil ihrer Mitarbeiter ab, wie ein Sprecher sagte. Wintershall holt nach eigenen Angaben rund 130 Mitarbeiter und Familienangehörige nach Deutschland zurück. Das Büro in Tripolis bleibt demnach vorübergehend unbesetzt. Eine kleine Kernmannschaft bleibe jedoch im Land. Wintershall beschäftigt in Libyen mehr als 400 Mitarbeiter, von denen mehr als drei Viertel Einheimische sind.

Auch die RWE-Tochter RWE Dea holte am Wochenende Mitarbeiter aus Libyen zurück, wie eine Konzernsprecherin sagte. Genauere Angaben wollte sie aber nicht machen. RWE Dea hat rund hundert Mitarbeiter in dem Land, von denen ebenfalls die meisten Einheimische sind. Insgesamt sind in Libyen nach Angaben der Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) 30 bis 40 deutsche Unternehmen tätig. Sie kommen demnach vor allem aus der Energiebranche, aber auch aus dem Bau-, Nahrungsmittel- oder Medizinbereich.

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Der Aufstand der Libyer hat die Hauptstadt Tripolis erreicht – allen Drohungen und Versprechungen von Machthaber Muammar Gaddafi zum Trotz. Aus dem Haus des Volkes, in dem üblicherweise das Parlament tagt, schlugen Flammen. In den Straßen versammelten sich erneut Gegner und Anhänger der Regierung. Auch aus Ras Lanuf, wo eine wichtige Ölraffinerie steht, wurden Unruhen gemeldet. In Benghasi im Osten haben die Sicherheitskräfte offenbar die Kontrolle verloren. Gaddafis Sohn Saif al-Islam warnte vor einem Bürgerkrieg und drohte mit einem Kampf bis zum letzten Mann. Zugleich bemühte er sich, die Libyer, die ihre Furcht vor seinem seit 40 Jahren herrschenden Vater immer mehr verlieren, zu beschwichtigen und versprach mehr Freiheiten. Die EU verurteilte die Gewalt der Sicherheitskräfte gegen das Volk, durch die nach Angaben von Human Rights Watch mehr als 230 Menschen starben.

„Ich kann die brennende Halle des Volkes sehen“, berichtete ein Reuters-Reporter aus Tripolis. „Die Feuerwehr ist vor Ort und versucht, das Feuer zu löschen.“ In der Nacht seien mehr als 60 Menschen in Tripolis getötet worden, berichtete der Fernsehsender al-Dschasira und berief sich auf Rettungskräfte. Der Sender meldete zudem, dass Demonstranten mehrere Polizeiwachen gestürmt und demoliert hätten. Sicherheitskräfte zögen plündernd durch Bankfilialen und Verwaltungsgebäude.

Die Bundesregierung forderte alle Deutschen auf, Libyen zu verlassen. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes befinden sich derzeit etwa 500 Deutsche in Libyen. Professor Hanaa Elgallal von der Universität Benghasi sagte al-Dschasira, in der zweitgrößten Stadt des Landes seien die Sicherheitskräfte nicht mehr zu sehen. „Bewaffnete Jugendliche haben die Kontrolle über die Stadt übernommen“, sagte er. Salahuddin Abdullah, der sich selbst als Protest-Organisator bezeichnete, sagte dem Sender, die Lage in Benghasi sei ruhig. „Die Demonstranten haben die Macht ganz übernommen.“ Es werde versucht, selbstverwaltete Komitees zu gründen, um die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen.

Hunderte Türken sind seit dem Beginn des Aufstands gegen Machthaber Gaddafi ausgeflogen worden. Eine Istanbuler Fährreederei teilte mit, auf Bitte der türkischen Regierung seien zwei ihrer Schiffe nach Libyen unterwegs. Die Fähren hätten genug Platz für 1200 Passagiere und führen Lebensmittel für 3000 Menschen mit sich. Eine Fregatte werde als Eskorte mitgeschickt. Libyen gehörte bis 1912 zum Osmanischen Reich, als es von Italien erobert wurden. Heute leben in Libyen etwa 25.000 Türken. (rtr/dpa/abendblatt.de)