Mit 23 Jahren ist die Hürdensprinterin urplötzlich in der Spitze gelandet. Auch ihr Freund Sebastian Bayer schaffte es nach Peking.

Grünheide. Manchmal kommen noch diese Momente, in denen sich Carolin Nytra ein wenig fremd vorkommt in ihrem eigenen Leben. In denen sie selbst kaum glauben kann, dass das alles wahr sein soll: dass sie nun auf einer Terrasse mitten im Bundesleistungszentrum Kienbaum sitzt, wo sich die Besten der Besten den letzten Schliff holen wollen vor den Olympischen Spielen in Peking. Den Kanuten Andy Dittmar hat sie schon getroffen, im Bungalow nebenan hat Turnweltmeister Fabian Hambüchen Quartier bezogen. Sportler, die Nytra bisher nur vom Fernsehen gekannt hat.

"Das ist noch etwas unwirklich", sagt sie und nippt an einem Glas Apfelschorle. Ein paar Tische weiter hat gerade Franka Dietzsch Platz genommen. Am Vorabend, beim Sommerfest der deutschen Leichtathleten, ist Nytra von der dreimaligen Diskusweltmeisterin begrüßt worden wie eine alte Bekannte, obwohl sie ihr zuvor noch nie begegnet war. "Ein nettes Gefühl" sei das gewesen. Viele andere haben ihr zur Qualifikation gratuliert, von denen sie nicht einmal den Namen wusste.

Noch vor wenigen Monaten war die Hürdensprinterin Carolin Nytra selbst eine Namenlose. Gewiss, sie wurde deutsche Meisterin, doch ihre Zeiten über die 100 Meter waren weit von der 13-Sekunden-Hürde entfernt, die genommen werden muss, wenn man international etwas bewegen will. Peking jedenfalls war weit weg. So weit, dass die 23-Jährige zuerst an einen Fehler bei der Zeitmessung glaubte, als sie im Frühjahr in ihrem ersten Wettkampf auf Anhieb die Olympianorm von 12,92 Sekunden lief. Dreimal konnte Nytra die Qualifikationszeit seither bestätigen, insgesamt achtmal blieb sie schon unter 13 Sekunden. Der sogenannte Fünferschnitt, Mittelwert ihrer fünf schnellsten Rennen, liegt in dieser Saison bei 12,89 Sekunden, eine Verbesserung um mehr als drei Zehntelsekunden im Vergleich zur vergangenen.

Eine einfache Erklärung für ihren großen Sprung nach vorn weiß Nytra auch nicht. Im Dezember zeigte sie Anzeichen von Pfeifferschem Drüsenfieber, vier Wochen lang war an Training nicht zu denken. Trotzdem nahm sie die Hallensaison mit, wie sie sagt, und die Zeiten versprachen einiges. Vielleicht lag es daran, dass sie seit Ende Februar ausfallfrei trainieren konnte, jede Einheit bis ans Limit. Vor allem an ihren Sprintqualitäten hat sie mit ihrem Trainer Jens Ellrott gearbeitet. Seinetwegen wechselte sie vor vier Jahren von Hamburg, wo es am Trainingsplatz nicht einmal Flutlicht gab, nach Bremen. Die Fortschritte waren zunächst kaum messbar, schon weil es für Nytra "eine Qual ist, wenn im Training eine Lichtschranke aufgebaut wird".

Im Wettkampf sei das etwas anderes: "Ich brauche das Adrenalin." Inzwischen stehen 12,84 Sekunden als Bestzeit. Nytra will sie in Peking noch einmal steigern. Und sie will "zweimal auf der Bahn stehen", konkret: das Halbfinale erreichen. Sie sei darauf gefasst, dass 90 000 Zuschauer Alarm machen werden. "Ich werde mir sagen: Die schauen nicht auf dich, die schauen auf die, die vornweg laufen."

Eine davon ist die Amerikanerin Lolo Jones, Weltjahresbeste in 12,45 Sekunden. Bis vor Kurzem hätte Carolin Nytra gesagt, dass so eine Zeit auf legalem Wege nicht erzielt werden kann. Misstrauisch ist sie geworden, nicht erst seit ihr einstiges Vorbild Marion Jones als Betrügerin enttarnt worden ist. Sie hätte Zweifel bekommen beim Blick auf die Muskelpakete oder die unreine Haut mancher Konkurrentin, weil sie als Nebenwirkung von Doping gilt.

Nun ist Nytra selbst ein kleiner Quantensprung gelungen, und wenn es nach Rüdiger Harksen geht, wird es nicht der letzte bleiben: "Die Caro ist doch noch ein Küken", sagt der DLV-Disziplintrainer, "das beste Hürdenalter liegt noch vor ihr." Deshalb wolle sie niemandem etwas unterstellen, sagt Nytra, schließlich gebe es vielleicht begnadetere Athletinnen als sie, die eigentlich gewöhnliche Sprinterin werden wollte, weil man da die meiste Aufmerksamkeit bekomme. Den Hürden sei sie regelrecht ausgewichen, bis Marco Rohrer, ihr erster Trainer bei der LG Hausbruch-Neugraben-Fischbek, ihrer Mutter Irene erzählte, sie habe Angst, und das konnte sie dann doch nicht auf sich sitzen lassen.

Vier bis fünf Jahre will Nytra noch Sport machen. In der Zeit kann die gelernte Bankkauffrau ihr Sportmanagement-Studium abschließen, das sie in Oldenburg aufgenommen hat. Den ganzen Tag nur Sport, das reiche ihr nicht: "Ich brauche auch Aktivierung für den Kopf." Es dreht sich schon genug um Leichtathletik und Olympia, seit sie und der Leverkusener Weitspringer Sebastian Bayer im vergangenen Jahr ein Paar geworden sind. Bis zu den deutschen Meisterschaften hätte es nur dieses eine Thema gegeben zwischen ihnen, "wir haben es fast totgequatscht". Dann qualifizierte auch Bayer sich für Peking, und nun werden die beiden als "olympisches Traumpaar" gefeiert. "Vier Wochen ohne einander", sagt Nytra, "das wäre sehr hart geworden." Schade sei nur, dass die Wettkämpfe zeitlich so ungünstig lägen, dass sie einander nicht im Stadion anfeuern könnten.

Das wäre nur möglich, wenn sie den Endlauf erreicht. Aber diese Hürde erscheint selbst Carolin Nytra noch zu hoch.

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