Für Wanderer ist der Rondane-Nationalpark in Mittelnorwegen ein ideales Revier.

Der kleine Toffe leidet an Asthma. Gerne sitzt er zu Hause am Feuer und läßt sich Geschichten erzählen, am liebsten die vom Rentierjäger Per. Der streift immer im nahen Rondane-Gebirge herum, dessen runde Gipfel auch Toffe von seinem Fenster aus sehen kann. Per träumt, anstatt zu jagen, er tanzt mit den Trollen und erfindet Geschichten, - ein liebenswerter Abenteurer, von dem der kleine Toffe nicht genug bekommen kann. Doch der kleine Junge braucht Bewegung, um durchatmen zu können. Deswegen nimmt ihn sein Vater mit zur Rentierjagd ins Hochgebirge, sobald er alt genug ist. Und der dünne Toffe wird von den stundenlangen Wanderungen mit jedem Tag kräftiger.

Toffe, der eigentlich Toralf Pedersen heißt, ist inzwischen 77 Jahre alt, mehrfacher Großvater und Experte für alles, was die Rondane betrifft. Von den gewaltigen Sparagmit-Steinen, aus denen das Gebirge besteht, ist er sein Leben lang nicht mehr losgekommen, ebensowenig wie von den Spuren des Rentierjägers Per, von dem er heute den Besuchern erzählt. Nach mehreren Jahren, in denen Toffe als Lehrer unterrichtete, machte er seine Liebe zu den Bergen zum Beruf. Die Hälfte der Woche verbringt er in den Bergen: als Gebirgsführer für Wander- oder Langlaufgruppen, der trotz seines Alters immer gelenkiger und flotter ist als seine Mitwanderer. Vom Atemproblemen keine Spur.

"In ganz Norwegen gibt es keine schöneren Gipfel als in den Rondane", schwärmt Toffe. Mehr als zehn Zweitausender seien es im Gebiet des heutigen Nationalparks. Wie viele genau? Die Frage überrascht ihn. Das sage man eben so. Denn in den welligen Rondane geht ein Gipfel in den anderen über, es sei schwer zu sagen, wie viele es überhaupt seien. Oppland, die Provinz, in welcher der Rondane-Nationalpark liegt, heißt schließlich übersetzt "Hinauf-Land". Sanft und lieblich sehen die Berge von weitem aus. Je näher man ihnen kommt, desto schroffer und abweisender werden sie.

Als wäre der Weg eben und ausgetreten, schwingt Toffe seine langen Beine über das grobblockige Moränengestein aus Graniten und Gneisen. Die Nadelbaumgrenze liegt mit 1000 Metern für Skandinavien ungewöhnlich hoch. Bald bedeckt nur noch ein dichter Teppich aus Rentierflechte den Boden, das "Reinlav", das so dicht und buschig ist, das es immer für Moos gehalten wird. Schließlich besitzt auch das nicht mehr die Kraft, die paar Zentimeter in die Höhe zu wachsen. Feine hellgrüne Flechten überziehen die Steine. 160 unterschiedliche Arten Flechten und Moose wachsen im Park, berichtet Toffe. Das rote "T" für "Touren", mit dem der norwegische Bergwanderverein DNT die Wege markiert, hebt sich gut von ihnen ab.

Oberflächliche Betrachter mögen den Rondane-Nationalpark als langweilig bezeichnen. Man muß schon genau hinschauen, um die Vielfalt der flach wuchernden Vegetation zu erkennen. Doch es hat seinen Grund, daß sie das meistbesuchte Wandergebiet Norwegens sind. Die Besucher wissen die Weite und die Ruhe zu schätzen, die in diesem Gebirge herrscht. "Karlinge", "Gneise" und "Moränenterrassen" sind Wörter, die man in den Rondane lernt, und die so klingen, als seien sie einzig erfunden worden, um diese urwüchsige Landschaft zu beschreiben. Sie verbinden sich mit "gerumpften Ebenen" und "kaledonischen Faltungen", bis im Kopf ein ganz urzeitlicher Gesteinsmix entstanden ist, gefaltet, gehoben und mit Rentierflechten garniert.

Lange Zeit galten die Rondane als Reiseziel für Ältere und Familien, weil die Steigungen sanft und viele Wege eben sind. Inzwischen entdecken auch immer mehr junge Leute den Nationalpark. Die einen bleiben in den Tälern, die anderen erklimmen einen runden Gipfel nach dem nächsten. Wer alle zehn an einem Tag schaffen möchte, ist 13 bis 14 Stunden unterwegs, verpaßt aber viele Talwege mit ebenfalls grandiosen Aussichten. Auch rund um den Park sind stunden- und tagelange Wanderungen möglich, auf denen einem kaum jemand begegnet, noch nicht einmal eines der 2000 anscheinend sehr scheuen Rentiere, die im Park leben sollen.

Der Bestand der ältesten Rentierpopulation des Landes hat sich erholt, seit die Hochgebirgsfläche 1962 unter Naturschutz gestellt wurde. Es waren andere als der legendäre Rentierjäger Per, die ihren Bestand gefährdet hatten. Doch nur der Träumer Per aus Toffes Heimatort Vinstra erreichte Weltruhm. Das lag wiederum an einem kranken Jungen. Sigurd, der Sohn von Henrik Ibsen, lag in Berlin im Krankenbett, als ihm sein Vater norwegische Volkssagen vorlas. Und wieder konnten zwei nicht genug bekommen vom Per aus der Sage "Rentierjagd in Rondane". Henrik Ibsen widmete ihm 1867 das Versdrama "Peer Gynt", das später dann von Edvard Grieg vertont wurde.

Heute lebt die ganze Region von und mit dem Per, und die alte "Ulæhytta", in welcher dem norwegischen Märchensammler Peder Christian Asbjærnsen während einer Jagdpause angeblich Pers Geschichte erzählt wurde, ist ein beliebtes Etappenziel für Wanderer. Inzwischen sind ihre Schiefersteine ein wenig verrutscht, doch die Hütte steht noch, verschmolzen mit ihrer felsigen Umgebung in dem sanft abfallenden Hochtal. Hier finden die Trolle keine Ruhe mehr.

"Natürlich gibt es Trolle in den Rondane", sagt Toffe mit treuherzigem Augenaufschlag. Er sei sich da ganz sicher. Wo sollten sie auch sonst leben, wenn nicht in diesen Bergen, wo sie sich hinter Abhängen, Felsbrocken und Gipfeln vor den Augen neugieriger Menschen verbergen können? Gesehen habe er noch keinen. Aber wir hätten ja heute schließlich auch kein einziges Rentier gesehen. Trotzdem sei es Tatsache, daß die hier leben. Dann erzählt Toffe weiter, von den wunderschönen Mädchen mit den Kuhschwänzen, Wesen mit gelbem Haar und blauen Augen, die "huldar" genannt würden. Da muß er selbst ein wenig lachen.