Vor den Lofoten jagen die Orcas ihre Heringsbeute - und Touristen sind hautnah dabei.

Der Tag ist schlapp und geht nochmal mit sich zu Rate: Soll ich wirklich an die Arbeit gehen heute? Flagge zeigen für lumpige sechs Stunden? Warum nicht gleich der Nacht das Feld überlassen, da sie sich ja ohnehin von Tag zu Tag breiter macht?

Es geht ihm da nicht anders als uns: Wollen wir wirklich hinaus in diese fahle Düsternis? Herumirren zwischen schwappenden Wellen und den schwarzen Schemen der Berge, an deren Fuß vereinzelte Glühwürmchen entlangkriechen? Sicher: Seemannsbraut ist die See - aber muß die Vermählung ausgerechnet an einem Wintermorgen stattfinden?

Doch dann siegt, hier wie da, das Pflichtgefühl: Der Tag schält Felsen, Möwen und Öltanks aus dem Grau. Und wir stapfen aus unserem Rorbu, der gemütlich umgebauten Fischerhütte, hinüber zur "Boersen Spiserei", wo marinierter Hering, Rührei und süßer Käse auf uns warten.

Auch Skipper Odd Ivar wartet schon auf seiner "Lofotcruises". Vorbei an der Säule mit der winkenden Fischerfrau verlassen wir, eine Gruppe deutscher und englischer Touristen, den Hafen von Svolvaer. Auf den Holzgestellen am Ufer baumeln ein paar späte Pollacks und Lengfische, die schmackhafteren Dorsche sind längst brettsteif getrocknet und bündelweise verpackt in alle Welt verschickt. Ein Seeadler ist auf Patrouille. Auf einem Fischerboot säubern Männer das Netz. Sie gehen einer ernsthaften Tätigkeit nach. Wir sind zum Spaß hier. Wir wollen nur gucken.

"Wie ein Rückgrat, dessen Wirbel immer kleiner werden, bis sie zuletzt nur noch einen Schwanzfortsatz bilden", lägen die Inseln vor Nordnorwegen im Atlantik, schrieb der Baedeker 1921. Der Blick zurück zeigt eine Kette strahlend weißer, schartiger Sägezähne. Graues Gespinst mit zartrosa Bordüren überzieht den Himmel, nur manchmal tastet ein Sonnenfinger zögernd über zerklüftetes Gestein und schrundige Spitzen - die Lofoten sind das größte Lichtspieltheater der Welt. Ein Ziel für rauhe Naturen.

In den vergangenen Tagen haben wir uns die Inseln in Stippvisiten erschlossen, haben Schellfische geangelt und uns im Wikinger-Langhaus in Borg Met Rentierwurst und Räucherlachs schmecken lassen. Und natürlich haben wir in der "Magic-Ice"-Bar in Svolvaer einen Drink genommen: roten Likör aus der Krekling-Beere in einem Trinkhorn aus Eis. Auch Kunst stand auf dem Programm: die dreieckigen Zinnen Thor Erdals, den wir in seinem Atelier in Kabelvag trafen. "Die Lofoten sind nicht die Inseln der Seligen. Sie verändern sich rasend schnell - immer weniger Leute erledigen immer hektischer die Arbeit auf den Booten und in den Fabriken", sagt der Mann mit der Wollmütze auf dem kantigen Schädel. "Man hat vorgeschlagen, die Lofoten zum Weltkulturerbe der Unesco zu erklären. Vieles bliebe dann erhalten - aber möchten wir wirklich in einem Museum leben? Und wollen wir ganz auf den Tourismus setzen - wir Querköpfe?"

Doch nun sind wir auf See und fahren, hoffentlich, denen entgegen, deretwegen wir hergekommen sind: den Orcas, "Killerwale" genannt, obwohl sie für Menschen nicht sonderlich gefährlich sind. Seit etwa 15 Jahren ziehen sie von Oktober bis Januar in den Westfjord zwischen Lofoten und norwegischem Festland. Vor etwa 15 Jahren änderten sich ein paar Meeresströmungen, seitdem nehmen auch die großen Heringsschwärme diesen Weg - und eine Gruppe von 600, 700 Walen folgt das ganze Jahr über ihrer wandernden Speisekammer. Über Funk verständigt der Käpitän sich mit Kollegen - nein, noch hat keiner was gesehen.

Doch dann sind sie plötzlich da. Etwa 50 Meter vom Boot entfernt brechen zwei schwarze Rücken aus dem Wasser, ein Prusten ist in der Luft, die speckig glänzenden Körper mit den weißen Flecken an der Seite sind gut zu erkennen. Fast niedlich wirken die versierten Jäger, "Pandas der Meere" denkt der Beobachter. Und plötzlich tauchen an drei, vier, fünf Stellen die schwarzen Segel der Schwanzflossen auf, steil und spitz die der männlichen Tiere, gedrungener und flacher die ihrer Gefährtinnen.

Ein feiner grau-goldener Schleier aus Sonne und Regen liegt über dem Meer, schroffe weiße Matterhörner säumen den Horizont - als wäre man auf Seefahrt in den Alpen. An mehreren Stellen pflügen die prallen Dickhäuter jetzt die See, hier geht eine Fluke hoch als kurzer Abschiedsgruß, dort blitzt ein weißer Bauch, und vor dem Boot schießt plötzlich ein schwarz-weißer Torpedo aus dem Wasser, steht senkrecht für einen Moment und fällt platschend wieder zurück.

Unten in der Tiefe, haben wir morgens in der Diashow erfahren, umringen sie jetzt einen Teil des Heringsschwarms, so daß die Fische voller Panik im Kreis herumjagen. Unerbittlich treiben sie dieses "Nahrungskarussell" nach oben, und dann ist angerichtet: Mit Schwanzschlägen betäuben sie außen schwimmende Fische und schnappen zu, Hering auf Hering, immer nur einen zur Zeit. 100 Kilo Fisch verzehrt ein Orca am Tag - aber da unten kreiseln und schweben sechs Millionen Tonnen Hering.

Inzwischen sind andere Schiffe dazugekommen. Überall klicken Kameras, von einem Schlauchboot gleiten Taucher ins Wasser, immer möglichst nahe am wogenden Geschehen. Und dazwischen rollen und wiegen sich die Dicken, durchkämmen das Meer und spritzen und schnauben weit draußen und direkt vor der Reling - ein faszinierendes Bild für uns Laien.

"Sie waren im Streß", erfahren wir anderntags ernüchtert von Heike Vester. Die Meeresbiologin erforscht im Lofot-Aquarium die Kommunikation der Wale. "Sie fühlten sich von den Booten eingekreist, sie tauchten zu oft, die Gruppen splitteten sich auf - das sind Zeichen von Streß." Sie mahnt die Einführung von bestimmten Mindestabständen und Höchstbeobachtungszeiten an. Die Waljagd der Norweger sieht die Stuttgarterin im übrigen ganz nüchtern: "570 Zwergwale haben sie in diesem Jahr harpuniert. Die sind nicht gefährdet, und die Kontrollen sind sehr streng. Solange die Zahl klar begrenzt bleibt, ist das vertretbar."

Dann sind die Wale so höflich, zu verschwinden, um uns Zeit zum Mittagessen einzuräumen. Touren-Begleiter Kenny schenkt Gemüsesuppe aus, der Kapitän serviert direkt aus dem Kessel an Bord den Hauptgang: Dorsch und Pollack satt, nur in Seewasser gegart, serviert mit einem Stück Butter - nie hat Fisch perfekter geschmeckt.

Doch noch einmal kommen sie zurück. Fünf schwarze Rücken durchschneiden Seite an Seite die Wasseroberfläche, wiegen sich kurz in der Sonne, gleiten prustend an Backbord vorbei und tauchen ab. Nein, es bedarf nicht all der Wal-Mythologie und des Geraunes von den verwandten Seelen, um das elegante Spiel der Tiere zu genießen. Wir staunen, bewundern - und sind ein klein bißchen neidisch. Wie immer, wenn ein Lebewesen ein Element beherrscht, das dem Menschen verschlossen bleibt.