Vom Schiff aus kann man nördlich des Polarkreises ein grandioses Feuerwerk der Natur erleben.

Trondheim. Nein, dafür hätte man nicht nach Norwegen fahren müssen. Nicht im letzten November, als die starken Sonnenwinde über die Erde hinwegfegten und auch in Deutschland überall Polarlichter aufflammten. Jetzt aber bleibt bei uns der Himmel dunkel, dafür zucken in Skandinavien die schönsten Lichtfeuer durch die Polarnacht.

"Dieses Phänomen hat die Menschen schon immer fasziniert", sagt Michael Risch, 30-jähriger Hobby-Astronom aus dem oberbayrischen Mammendorf. Der Himmel ist seine Welt, seit er im Alter von sieben Jahren einen Stern-Globus zum Geburtstag bekam.

Heute kann Michael Risch seine Begeisterung für das Universum auch an Urlauber weitergeben. Denn jedes Jahr zwischen Januar und März hält er mit Passagieren der norwegischen Hurtigruten Ausschau nach einer Himmelserscheinung, die in den Wintermonaten immer mehr Touristen nach Skandinavien lockt: Polarlichter. "Sicher ist es aufregend, eine Sonnen- oder Mondfinsternis zu beobachten", sagt er, "aber es gibt nichts Schöneres als ein Nordlicht. Das ist die großartigste Lightshow der Welt . . ."

Schon immer zog die Fahrt entlang der norwegischen Küste ihren Reiz aus den Naturwundern, welche die laut Eigenwerbung "schönste Seereise der Welt" zu bieten hat: stille Fjorde mit bunten Fischerdörfern und blühenden Almen im Sommer, vergletscherte Felsen und zu Eis erstarrte Wasserfälle im Winter. Tag für Tag kreuzen die elf Schiffe der Hurtigruten zwischen Bergen im Süden und Kirkenes an der russischen Grenze im Norden, hin und zurück ein Elf-Tage-Törn von 1500 Seemeilen.

Nebel und winterliche Stürme können den minutiösen Fahrplan nicht durcheinander bringen, denn alle Schiffe sind mit modernster Navigationstechnik ausgerüstet - schließlich transportieren die ehemaligen Postdampfer seit langem lieber Pauschaltouristen als Postpakete. Und die Urlauber schätzen die lockere Atmosphäre an Bord. Selbst zum festlichen Kapitäns-Diner genügt ein zünftiger Norwegerpullover, denn der Reiz einer Hurtigruten-Reise liegt in der Symbiose aus Kreuzfahrt und Wassertaxi: Mehr als dreißig Mal auf jeder Tour steuert das Schiff einen Hafen an. Zeit genug für einen kurzen Landgang, während am Kai Zementsäcke und Lebensmittel, Fischkonserven und Maschinenteile ein- und ausgeladen werden.

Rund 40 000 deutsche Urlauber sind im vergangenen Jahr mit den Schiffen der Hurtigruten auf Nordkurs gegangen, die meisten im Sommer. In der dunklen Jahreszeit bleiben jedoch viele Kabinen leer. Deshalb will die für die Hurtigruten zuständige Norwegische Schiffahrts-Agentur (NSA) die Passagierzahlen auch in den Wintermonaten anheben - mit ihren speziellen Astronomietörns. Doch nördlich des Polarkreises starren die Fahrgäste oft vergeblich durch die salzverkrusteten Scheiben der Panorama-Decks: Die Polarnacht, die zwischen Mitte November und dem 21. Januar die Sonne unter dem Erdrand hält, verschluckt die schönste Aussicht auf die Winterlandschaft, die an der Küste an ihnen vorbeizieht. Da hoffen die Passagiere dann, dass sie wenigstens der Himmel mit einem prächtigen Farbenspiel über dem Nordkap entschädigt.

Tromsæ, das "Tor zum Nordmeer", rund 400 Kilometer oberhalb des Polarzirkels gelegen, versteht sich als Stadt nordischer Superlative: die nördlichste Universitätsstadt der Welt (9000 Studenten bei 60 000 Einwohnern), die meisten Kneipen und das turbulenteste Nachtleben nördlich des Polarkreises. Und die meisten Nordlichter.

Selbst wenn der Himmel hinter grauen Wolken verschwindet, können die Nordlicht-Touristen dem prächtigen Naturschauspiel zuschauen, und zwar im Tromsæer Polarplanetarium, das schon 1928 durch die Rockefeller-Stiftung gegründet wurde. Dort ist die Lichterscheinung zu jeder Tages- und Jahreszeit zu bewundern, projiziert auf ein 360-Grad-Firmament, zu dem man vom bequemen Liegesessel aus hinaufblicken kann.

Gewiss, in sternklaren Winternächten bietet Tromsæ ideale Voraussetzungen, um das magische Lichtspektakel auch in natura zu beobachten, das im Aberglauben der skandinavischen Urvölker mit zahllosen Legenden und Mythen verbunden ist. Die Wikinger sahen in den Strahlen die nächtlichen Lagerfeuer ihrer Ahnen, die Samen die Seelen verstorbener Jungfrauen, die am Himmel tanzten, und noch vor wenigen Jahrzehnten deuteten die Menschen in Skandinavien die Lichterscheinungen als Vorboten von Seuchen, Krieg und Unheil. Die wissenschaftliche Erklärung klingt wesentlich nüchterner: Eine Plasmawolke aus atomar aufgeladenen Protonen, ausgelöst durch gewaltige Eruptionen auf der Sonne, trifft über dem Nordpol auf das Magnetfeld der Erde und erzeugt einen kosmischen Supersturm, der hoch in der Atmosphäre elektromagnetische Teilchen zum Leuchten bringt.

"Je mehr wir begreifen, was im Universum geschieht, desto mehr erfahren wir auch über uns selbst", zitiert Michael Risch philosophisch. "Ich möchte die Dinge so erklären, dass die Teilnehmer die Neugier verspüren, öfter in den Himmel zu gucken. In erster Linie sollen sie sich an Bord wohlfühlen. Wenn sich dann noch ein Polarlicht zeigt, bin ich zufrieden."

Das aber ist Glückssache. Auch über Tromsæ leuchtet in der Nacht nur ein blasser, gelbgrüner Streifen am Himmel. Ab Februar zeigt sich dann die Sonne tagsüber schon wieder eine Handbreit über dem Horizont. Sobald sich aber am Abend die Dunkelheit über Land und Meer gesenkt hat, stehen wir - in dicke Daunen-Anoraks verpackt - an Deck und suchen den Himmel ab. Vergeblich. Kein Nordlicht lässt sich blicken.

Bis zum letzten Abend unserer Reise, am nächsten Morgen wollen wir in Trondheim sein. Gemütlich sitzen wir im Salon beim Abendessen. Da reißt Michael die Tür auf: "Ein Nordlicht!" Vergessen der marinierte Lachs, der Elchbraten, die Hummerkrabben auf dem Büffet. Wie auf Kommando stürzen alle nach oben. Und da ist sie. Endlich. Die ersehnte Aurora borealis. Ein Flimmern und Flackern gleitet über den Himmel, erst zart, dann immer heller und strahlender. Kaskaden in den Farben gelb und grün, orange und rot wabern und wehen durch die Dunkelheit, wachsen ins Riesenhafte und verschwinden ebenso plötzlich wieder, wie sie aufgetaucht sind, um gleich darauf an anderer Stelle des Himmels erneut aufzuflammen. Ein farbenprächtiges Abschiedsschauspiel, ein grandioses Feuerwerk der Natur in eiskalter Nacht.