Im Skandal um die neue U-Bahn, zurzeit Deutschlands größtes Tiefbauprojekt, kommen täglich neue beunruhigende Fakten ans Licht.

Köln. Sie gehen bis zu 50 Meter in die Tiefe, sind etwa 3,40 Meter breit und 1,20 Meter dick. Sie heißen Schlitzwände, sind aus Beton, sichern tiefe Baugruben gegen das Eindringen von Grundwasser und haben jetzt dafür gesorgt, dass der Glaube an die Kunst deutscher Ingenieure und insbesondere deren Sorgfaltspflicht heftig ins Wanken geraten ist. Und die Erschütterung im Lande über den Skandal beim Kölner U-Bahn-Bau, in dem diesen Schlitzwänden zunehmend eine buchstäblich tragende Rolle zukommt, wächst täglich und mit jeder neuen Enthüllung, die mühsam aus dem Untergrund der Domstadt ans Tageslicht befördert wird.

Es ist Deutschlands größtes Tiefbauprojekt, eine Milliarde Euro teuer und vier Kilometer lang: die Nord-Süd-Stadtbahn in Köln. Und was bis vor Kurzem nur eine von mehreren Theorien gewesen ist, erhärtet sich seit diesen turbulenten Karnevalstagen, in denen sogar die Evakuierung der Innenstadt und eine Verlegung des Rosenmontagsumzugs erwogen wurde, zu einem dringenden Verdacht: Der Einsturz des Kölner Stadtarchivs, bei dem vor fast genau einem Jahr zwei Menschen ums Leben kamen, hängt womöglich mit kriminellen Machenschaften beim U-Bahn-Bau zusammen. Wie kriminell ist der Kölner Untergrund?

"Was hier passiert, hat terroristische Züge", sagt der Kölner Grünen-Fraktionsvize Jörg Frank und fordert die Übernahme der Ermittlungen durch den Generalbundesanwalt. Denn: "Schon wenn wenige Menschen in Gefahr sind, zieht er Verfahren an sich. Wenn diese U-Bahn einmal fahren sollte, sind möglicherweise viele Hunderttausend Menschen in Lebensgefahr."

Schießt da jemand aus politischem Kalkül übers Ziel hinaus? Oder ist hier wirklich eine Gefahr im Verzug, die man bisher eher in Ländern vermutete, in denen nicht jeder und alles mehrfach kontrolliert wird und gesetzlich geregelt ist? Haben Kostendruck oder Korruption dafür gesorgt, dass es mit der deutschen Gründlichkeit mittlerweile gar nicht mehr so weit her ist? Oder handelt es sich in Köln um einen genauso unglaublichen wie bedauerlichen Einzelfall?

Längst geht es nicht mehr um Pfusch am Bau, der Millionen von Kosten nach sich ziehen wird, sondern um "hochkriminelle Vorgänge", wie der nordrhein-westfälische Bauminister Lutz Lienenkämper die Angelegenheit nennt. Es geht um Diebstahl, Betrug, gefälschte Prüfprotokolle und womöglich fahrlässige Tötung. Genügend Stoff für einen Kölner "Tatort", bei dem es zahlreiche Hauptdarsteller gibt.

Da ist zum einen die - neben Wayss+Freitag sowie der Strabag-Tochter Züblin - federführende Baufirma Bilfinger Berger, nach Bauleistung die Nummer zwei unter Deutschlands Baukonzernen. Deren Chef, Herbert Bodner, hatte die Stadtoberen vor zwei Tagen mit einem ersten Erklärungsversuch in Rage gebracht. Falsche Messprotokolle seien "vielleicht aus einem Software-Unverständnis" entstanden, so Bodner. "Bei einem sicherheitsrelevanten Bauvorhaben wie der Nord-Süd-Stadtbahn erwarte ich einen anderen Umgang mit Messergebnissen", schäumte der Kölner Oberbürgermeister Jürgen Roters (SPD).

Da sind zum anderen die Kölner Verkehrsbetriebe (KVB) als Bauherr. Das städtische Unternehmen hat von der Stadt die Bauaufsicht übertragen bekommen, was dazu führte, dass sich der Bauherr quasi selbst kontrollierte. Bela Dören war bis vor einigen Jahren Tiefbau-Dezernent mit mehr als 100 Mitarbeitern, dann wurde sein Amt gestrichen. "Hätte die Stadt das Amt nicht aufgelöst, wären wir täglich mit mehreren Leuten vor Ort gewesen", erklärte Dören dem "Tagesspiegel". So aber beauftragte die Stadt Professor Rolf Sennewald mit der Prüfung des Baus. Und dem wurden angeblich wichtige Unterlagen vorenthalten. Kannte der Gutachter Protokolle nur vom Papier? "Ich wollte ein Büro in Köln einrichten, doch das wollten die KVB nicht", erklärte Sennewald, der laut "Bild" die Baustelle nicht einmal gesehen hat. "Die Inhalte der Protokolle müssen aber nicht korrekt angegeben sein. Wenn hier mit krimineller Energie gefälscht wurde, konnte ich das nicht erkennen."

Dieses scheint mittlerweile außer Frage zu stehen. "Da ist mit System gefälscht worden", zitiert der Kölner "Stadt-Anzeiger" einen KVB-Aufsichtsrat. Laut Staatsanwaltschaft sind bisher manipulierte Vermessungsprotokolle für 28 Schlitzwandabschnitte in drei Baugruben entdeckt worden. Beim Kölner U-Bahn-Bau gibt es mehr als 1000 solcher Protokolle, die längst noch nicht alle überprüft sind. "Für uns sieht das nach einer systematischen Fälschung aus", sagt auch ein Ermittler. Was bedeutet das?

In diesen Unterlagen werden verbaute Betonmenge, Lage und Beschaffenheit der einzelnen Schlitzwände mit der Präzision eines genetischen Fingerabdrucks dokumentiert, müssen sich also voneinander unterscheiden, weil beim Einsetzen der gewaltigen Betonteile nie eine Lamelle exakt der anderen gleicht. Weisen die Protokolle jedoch stereotype Daten auf, besteht der Verdacht, dass sie einfach kopiert wurden - um zu vertuschen, dass die Wände zum Beispiel nicht exakt senkrecht stehen. Was dann nämlich zu nicht mehr tolerierbaren Lücken führen würde, durch die Grundwasser in die Baustelle einsickern könnte. Einzige Konsequenz wäre ein erneutes Einsetzen der Wände gewesen, doch das wäre eben auch teuer und zeitaufwendig geworden. Ist also hier aus Kosten- und Zeitdruck manipuliert worden?

Laut "Stadt-Anzeiger" liegen den Fahndern für unterschiedliche Bauabschnitte Protokolle mit identischen Daten vor. "Identische Messprotokolle gibt es nicht", sagte Christoph Kreienbaum (48) dem Hamburger Abendblatt. "Wenn doch, dann hätten die Kölner ein Problem." Der Sprecher der Hamburger Hochbahn weist darauf hin, dass in Hamburg beim Bau der neuen U 4 in die HafenCity die Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (BSU) mit einer eigenen Abteilung die Bauaufsicht führt. "Die haben vier Ingenieurbüros beauftragt, von denen Statik, Pläne, Plausibilität und Kosten geprüft werden. Und sie sind auch zu Abnahmen persönlich vor Ort." Außerdem seien noch zwei Ingenieurbüros allein für die Bauüberwachung permanent auf der Baustelle. Kreienbaum: "So sind acht Augen auf jede Schlitzwand gerichtet, deshalb können wir in Hamburg, auch wenn man Fehler nie gänzlich ausschließen kann, relativ ruhig schlafen."

Daran ist in Köln momentan nicht zu denken. Denn dort wächst laut Oberbürgermeister Roters nicht nur "täglich die Angst, weil immer neue Mängel bei der Bauausführung bekannt werden", sondern am Rhein hat es die Staatsanwaltschaft neben gefälschten Papieren auch mit gestohlenem Eisen zu tun. Und so ermittelt Oberstaatsanwalt Günter Feld nicht nur gegen zwei Bauleiter "aus dem technischen Bereich wegen Fälschung von Messdaten", sondern auch gegen einen Polier wegen Diebstahls von Baumaterial. Alle drei Personen sind mittlerweile von Bilfinger Berger suspendiert worden. Insgesamt wird gegen zwölf Personen ermittelt. "Zehn Verdächtige gibt es in Sachen Diebstahl von Stahlbügeln", sagt Feld.

Ein Zeuge hatte bei der Kölner Staatsanwaltschaft ausgesagt, dass an den Schlitzwänden nur "jeder zweite oder dritte Stahlbügel" zur Stabilisierung einbetoniert worden sei. Etliche Tonnen des eisigen Materials seien von dem korrupten Polier an Schrotthändler verhökert worden.

Verursachte der Stahlklau die Katastrophe mit dem Stadtarchiv? "Bei einem Drittel weniger wäre die Statik noch nicht gefährdet", sagt Professor Josef Steinhoff von der FH Köln. Schließlich geht es "nur" um die stabilisierenden Stahlbügel, nicht um die Eisenbügel in der Bewehrung. "Wenn ein Drittel fehlt, wäre das schon heftig", sagt dagegen Heinrich Bökamp. Der Präsident der Ingenieurkammer Nordrhein-Westfalen schlüpft zunehmend in eine weitere Hauptrolle in dem Kölner Tatort. Weil für ihn nicht kriminelle Arbeiter, die Material verhökert haben, das Problem darstellen, sondern eklatantes Systemversagen. "Es muss immer einen Baustatik-Ingenieur geben, der die Bewehrung einer Schlitzlamelle abnimmt, bevor er diese zum Betonieren freigibt", erklärt Bökamp. "Es ist zu befürchten, dass es da zu Versäumnissen gekommen ist." Die KVB hätten es wohl versäumt - wie vorgeschrieben -, einen Prüfingenieur mit der Überwachung zu beauftragen. Stattdessen hätten sie es offenbar irgendwie selbst leisten wollen. "Aber wenn 80 Prozent geklaut wurden, kann ich mir nicht vorstellen, dass da eine Kontrolle installiert war."

Fieberhaft suchen die Fahnder in Köln derzeit nach den Lücken im Kontrollsystem. Zum Kampf um lückenlose Aufklärung aber kommt jetzt auch ein Kampf gegen die Zeit: Zum Schutz vor drohendem Hochwasser sind an einer gefährdeten U-Bahn-Baugrube unweit vom Rhein die Sicherungsarbeiten angelaufen. Unterirdisch werden seit gestern schwere Stahlplatten in der Baustelle angebracht. Die Platten sollen wie ein Korsett dafür sorgen, dass der Außendruck durch steigende Wassermassen nicht zu hoch wird. Eine zweite Schutzmaßnahme soll gegebenenfalls eine Flutung der Grube für den Notfall bei Extrem-Hochwasser sein. Derzeit liegt der Rhein-Pegel noch bei 2,7 Metern. Er soll aber ab dem Wochenende ansteigen - nach Prognosen möglicherweise auf bis zu acht Meter.