Regierungserklärung: Die erste Bundestagsrede als neue Kanzlerin. Die CDU-Chefin streichelt die Seele der Sozialdemokraten - und kontert die Grünen elegant aus.

Berlin. Eigentlich ist sie da vorne ganz neu. Doch Angela Merkel sitzt gestern vormittag so selbstverständlich auf dem Kanzlerstuhl gleich vorne in der ersten Reihe auf der Regierungsbank im Bundestag, als sei dieser Chefsessel mit der erhöhten Rückenlehne schon seit Jahren ihr Stammplatz. Einen freundlichen Blick schenkt sie Franz Müntefering, der zu ihrer rechten Seite Platz genommen hat, weil er jetzt Vizekanzler der großen Koalition ist, sozusagen der oberste Sozialdemokrat in der neuen Regierung. Vor wenigen Wochen noch saßen auf diesen beiden Plätzen Gerhard Schröder und Joschka Fischer. Aus, vorbei, Geschichte.

Es ist kurz vor 11 Uhr. Gleich wird Angela Merkel ihre erste Regierungserklärung als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland abgeben. Sie ist ein paar Minuten früher gekommen, scherzt ganz locker vor der Bundesratsbank im Hohen Haus mit einigen Ministerpräsidenten. Der neue SPD-Chef Matthias Platzeck aus Brandenburg ist da, auch der nordrhein-westfälische Regierungschef Jürgen Rüttgers (CDU) und aus Thüringen Merkel-Freund Dieter Althaus.

Doch aufmerksam wird im Plenum und auf den Zuschauertribünen auch registriert, welche Länderfürsten die Reise nach Berlin gescheut haben. CSU-Chef Edmund Stoiber, der in den vergangenen Monaten überehrgeizig Dauerpräsenz in der Hauptstadt zeigte, verzichtete nach seinem peinlichen Rückzug von der Bundesbühne in die schöne bayerische Provinz diesmal auf einen Ausflug an die Spree. Auch der Hesse Roland Koch und der Niedersachse Christian Wulff, als Merkels mutmaßliche Dauerrivalen immer unter Beobachtung, ließen sich gestern auf der Bundesratsbank nicht blicken.

Vorn vor der Regierungsbank plaudert Grünen-Fraktionschefin Renate Künast mit Frank-Walter Steinmeier. Der ist jetzt Bundesaußenminister, während sich Frau Künast gleich aufs harte Oppositionsgestühl bequemen muß, wo sie doch so gern Ministerin für Verbraucherschutz und Landwirtschaft war. Dieses Feld beackert aber jetzt Horst Seehofer, der schräg hinter Merkel in der zweiten Reihe sitzt und immer wieder angeregt mit seinem Sitznachbarn, dem Kanzleramtschef Thomas de Maizière, tuschelt.

Später, als Merkel in ihrer Regierungserklärung kurz auf die Verhandlungen über die Zuckermarktordnung zu sprechen kommt, kann sich die kesse Künast einen Zwischenruf nicht verkneifen. Doch Merkel hat sich da längst warm geredet, kommt nicht aus dem Konzept, sondern kontert die Grüne schlagfertig aus: "Ja, Frau Künast, das geht auch ohne Sie . . ." - da ist das Gelächter groß im Hohen Haus.

Doch hoch her ging es gestern keinesfalls. Merkel legt ihre Rede überwiegend sachlich an, gestattet sich aber in den Anfangspassagen einen Hauch von Pathos vermischt mit Optimismus. Sie berichtet von der größten Überraschung ihres Lebens - "die Freiheit". Mit vielem habe sie früher gerechnet, "aber nicht mit dem Geschenk der Freiheit vor meinem Rentenalter". Alle Wege seien seinerzeit, als sie noch in der DDR lebte, an der Mauer geendet. Doch die fiel 1989. Und Merkel schlägt den Bogen in die aktuelle Politik mit dem Satz: "Wenn Sie schon einmal im Leben so positiv überrascht worden sind, dann halten Sie vieles für möglich."

Da brandet Beifall auf, in der Union, aber auch in den Reihen der SPD-Fraktion. Noch ist das ein ungewohntes Bild, daß Sozialdemokraten eine Christdemokratin beklatschen und die Liberalen, die sonst immer mit der Union schäkerten, keine Hand rühren. Merkel redet sich rasch frei. Sie wirkt kaum nervös, rasch selbstbewußt und konzentriert.

Und sie hätschelt ihren Koalitionspartner. "Mehr Demokratie wagen", habe der Vizekanzler einer früheren großen Koalition und späterer Bundeskanzler einmal gesagt. Es war die SPD-Ikone Willy Brandt. Der Satz habe in den Ohren gerade jenseits der Mauer damals "wie Musik geklungen", sagt Merkel - und vielen Genossen geht das Herz auf. Nun variiert die neue Kanzlerin den Satz und ruft: "Laßt uns mehr Freiheit wagen!" Da sind die Großkoalitionäre allesamt im Beifall vereint. Fortan hat die Kanzlerin nur noch wenig Spektakuläres zu bieten. Sie arbeitet Punkt für Punkt den Koalitionsvertrag ab, beschreibt die Richtung in nüchternen Worten. Viel Stimmung kommt da nicht auf.

Eher schon, als nach Merkel Guido Westerwelle spricht. Der FDP-Chef und Duzfreund der Kanzlerin darf sich als eine Art Oppositionsführer fühlen, führt er doch die größte der drei kleinen Oppositionsfraktionen und darf deshalb nach Merkel auch als erster reden. Die Gelegenheit nutzt Westerwelle gut.

Erbittert gestritten wurde nicht. Es geht ja erst los mit dem Regieren. Doch es wurde gestern deutlich: Die Opposition mag zahlenmäßig klein sein. Doch sich in Szene zu setzen weiß sie sehr wohl.