Parteichef: Sozialdemokraten wählen Matthias Platzeck mit 99,4 Prozent. Brandenburgs Ministerpräsident streichelt mit viel Gefühl die Sorgen der Genossen weg - und triumphiert.

Karlsruhe. Kurz vor halb zwölf brachen bei Bernd Holst alle Dämme. Der neue SPD-Chef Matthias Platzeck hatte gerade die letzten Worte seiner Rede gesprochen. Sehr persönliche Worte. Worte, die beim Kreisvorstandsmitglied der SPD Hamburg-Mitte die Tränen hemmungslos kullern ließen. Während Platzeck auf der hellerleuchteten Bühne in der Karlsruher Messe den donnernden Applaus des Plenums genoß, stand Holst von seinem Platz auf und blickte gerührt zu seinem neuen Vorsitzenden auf. "Es war eine wunderschöne Rede", sagte der Mann mit dem grauen Dreitagebart. "Seine Worte kamen aus dem Innersten seines Herzens."

Derartiger Gefühlsüberschwang war gestern häufig zu beobachten in den Delegierten-Reihen. Platzeck verstand es während der rund 80 Minuten langen Rede, die Seelen der Mitglieder zu streicheln. Der neue SPD-Chef gab den "Streichel-Genossen". Kritische Töne waren nicht zu hören, auch keine neuen Ansätze von Politik, kein visionäres neues Ziel, das unter seiner Ägide angestrebt werden soll. Den meisten in der Halle reichte das jedoch völlig. Gestern war nicht der Tag des Aufbruchs. Es war der Tag der Beruhigung nach soviel Wochen der Unruhe und des Streits.

Platzeck sprach das auch offen aus. Sogar die Parteilinke Andrea Nahles, Triebfeder des Müntefering-Abschieds, nannte er eine wichtige Stütze der Partei. "Wir ziehen einen Strich unter die Turbulenzen der vergangenen Wochen", sagte der neue Parteichef. Die Delegierten waren begeistert. "Er hat die Sprache der Partei gesprochen", sagte die bayerische Delegierte Silke Weiler, "hat auf unsere traditionellen Werte Freiheit, Gleichheit, Solidarität hingewiesen und die Stärken der Partei herausgestellt." Der Lohn für den bärtigen 51jährigen aus Brandenburg: Er wurde mit 99,4 Prozent der Stimmen zum neuen Vorsitzenden gekürt. Es gab nur zwei Nein-Stimmen und eine Enthaltung.

Soviel Zustimmung gab es zuletzt auf dem Nürnberger Parteitag 1948 für Kurt Schumacher. Der erhielt damals 99,7 Prozent. Platzeck reagierte schlagfertig auf das Ergebnis. "Es erinnert mich an alte Zeiten", scherzte der Ostdeutsche, "doch heute bin ich sicher, daß alles korrekt abgelaufen ist."

Dieses Ergebnis ist jedoch weniger der Bewerbungsrede Platzecks geschuldet als vielmehr der alles überlagernden Atmosphäre, in der dieser Parteitag stattfand. Vielen Delegierten dämmerte in Karlsruhe erstmals so richtig, daß man sich hier auch gut zu einem "Jammer-Parteitag" hätte treffen können. Die Wähler meinten es aber bekanntlich besser mit der SPD bei der Bundestagswahl am 18. September.

Und so sind eben nicht Oppositionsrolle und Parteikrise das Thema des Parteitags, sondern die "sozialdemokratische Handschrift", die man in der großen Koalition und in der deutschen Politik insgesamt erkennbar machen werde. Platzeck betonte dies ein ums andere Mal. Die SPD von Matthias Platzeck ist eine selbstbewußte SPD. Eine SPD, die sich um die Familien kümmert, "kein einziges Kind zurückläßt", für gleiche Bildungschancen sorgt, die Alten in der Gesellschaft nicht ausschließt sowie "die Partei des Friedens" bleibt. Der Mann aus Potsdam sprach viel an in seiner Rede und sagte doch kaum etwas. Manch kritisch eingestellter Genosse spöttelt deshalb auch gerne über den "Allgemein-Platzeck".

Christel Buchholz war das unwichtig. Die Delegierte aus Schleswig-Holstein wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und sagte ergriffen: "Es war eine Rede mit sehr viel Bodenhaftung. Sie sollte jedem verantwortlichen Politiker auf den Tisch gelegt werden." Was die Frau meint, demonstrierte Platzeck, als er noch einmal auf das Podium stieg, um die Wahl zum Vorsitzenden anzunehmen. "Ich bin gerührt", sagte er da mit bebender Stimme. Zuvor hatte er verraten, daß es ihn mit Stolz erfülle, "dieser großartigen sozialdemokratischen Partei anzugehören". Das Plenum dankte ihm diese Demutsbekundung mit lautstarkem Applaus.