Wie die Spirale der Gewalt in Nahost beendet werden kann, zeigen zwei Menschen, die durch Taten der jeweils anderen Seite nahe Angehörige verloren.

Yousef Abu-Awad aus dem palästinensischen Dorf Beit Omar zwischen Bethlehem und Hebron war 31 Jahre alt, Vater von zwei Kindern. Am 15. November 2000 geriet er an einem Kontrollposten der israelischen Armee in eine erhitzte Debatte mit einem Soldaten. Schließlich legte der Israeli an und erschoss Yousef.

Yousefs Bruder Saed Subeeh war 14 Jahre alt und ein lebenslustiger Junge. In der Ortschaft Al-Khader schoss ihm am 28. Februar 2001 ein israelischer Soldat von einem Wachturm aus in den Kopf. Saed starb kurze Zeit später im palästinensischen Krankenhaus Al-Makased in Ostjerusalem.

Khaled Abu-Awad aus Beit Omar ist der Bruder der beiden getöteten Palästinenser. So ein Mann muss die Israelis abgrundtief hassen, keine Frage.

Noam Barnea war 21 Jahre alt, Mitglied eines elitären Bombenräumkommandos der israelischen Armee. Am 12. April 1999, fünf Tage vor dem Ende seiner Mission im Südlibanon, bestand Noam darauf, "noch eine letzte Bombe" zu entschärfen. Er wollte den Libanesen die tödliche Saat auf ihren Feldern und Straßen nicht hinterlassen. Während er an dem Sprengsatz arbeitete, wurde dieser von einem Team der radikalislamischen Terrororganisation Hisbollah ferngezündet zur Explosion gebracht. Der vermeintliche Blindgänger war eine heimtückische Falle gewesen. Die Hisbollah filmte Noams Tod und strahlte das Video auf ihrem eigenen Sender aus. Noam, der Kriegsgegner, trug ungeachtet wütender Proteste seiner Vorgesetzten einen Button auf seiner Uniform, als er starb. Darauf stand: "Lasst den Libanon in Ruhe".

Aaron Barnea aus Tel Aviv war Noams Vater. So ein Mann muss die Araber abgrundtief hassen, keine Frage.

Nun sitzen Khaled und Aaron dicht nebeneinander in einem Konferenzraum des Hamburger Abendblatts. Die Blicke, mit denen sie sich mustern, sind voller Respekt, es ist beinahe Freundschaft zu ahnen. "Ich stimme dir vollkommen zu", sagt der grauhaarige Aaron immer wieder. Er hat einen Bachelor-Abschluss in Mathematik, Physik und Wissenschaftsphilosophie der Hebräischen Universität Jerusalem, einen Master-Grad in Betriebswirtschaft der Tel-Aviv-Universität, hat zudem Geschichte und Erziehungswissenschaften studiert, ist Maler und Bildhauer, war ein führender Gewerkschafter in Israel.

Khaled hat Mathematik an der Universität von Abu Dis und an der Kaduri-Universität von Tulkarem in Palästina studiert. An der Universität Bethlehem studierte er zudem Pädagogik, arbeitete als Mathematik-Lehrer, war überdies ein erfolgreicher Unternehmer in der Forstwirtschaft.

Der Tod der Brüder respektive des Sohnes hat das Leben von Aaron und Khaled unwiderruflich verändert. Es sind zwei kluge, aktive Männer, keineswegs in Lethargie gebrochen, doch in ihrer ernsten Nachdenklichkeit schwingt unübersehbar die Tragik des Durchlittenen mit. Trauer umgibt beide Männer wie eine dunkle Aura.

Warum eigentlich hassen sie sich eigentlich nicht - wo sie doch beide in antagonistischen Gesellschaften leben und obendrein geliebte Menschen durch die Gewalt der anderen Seite verloren haben? "Ich glaube, die mit Hass aufgeladenen menschlichen Konflikte sind vor allem jene, die innerhalb einer Familie geschehen oder die ideologische Wurzeln haben", sagt Aaron ruhig. "Unser Konflikt ist aber ein politischer. Und ich glaube, dass es dafür auch eine politische Lösung gibt".

Aarons Blick schweift aus dem Fenster, aber er sieht nicht die Dächer von Hamburg. Er sieht seine eigene Vergangenheit. Damals, an jenem Tag, hatte er mit seiner Frau vor dem Fernsehgerät gesessen, als es an der Tür klopfte. In derselben Sekunde, als Aaron öffnete, wusste er Bescheid. Ihm bot sich ein Bild, "das jeder Israeli kennt, und von dem jeder hofft, dass er es niemals sehen wird": zwei Angehörige der Armee mit ernsten Gesichtern und einer furchtbaren Nachricht. "Noams Tod traf mich wie ein Blitz", sagt der Israeli leise. "Ich war am Boden zerstört und konnte keinen Trost finden. Als ich später erfuhr, dass die Armee die beiden Kerle getötet hatte, die den Sprengsatz ausgelöst hatten, war dies ohne jede Bedeutung für mich. Meine erste Reaktion war, die Politik meiner Regierung und der Armee anzugreifen. Ich schrieb Artikel in der israelischen Presse, gab Interviews im Radio und im Fernsehen, verfasste einen Brief an den libanesischen Präsidenten, der sogar weithin publiziert wurde. Kurz gesagt - ich versuchte meinen Schmerz und meine Verzweiflung in etwas umzusetzen, das einen Sinn hat. Es war der Versuch, dem sinnlosen Tod meines Sohnes irgendwie doch noch einen Sinn zu geben."

Um diesen Sinn zu finden, traten Aaron und auch Khaled der wohl ungewöhnlichsten Organisation im Nahen Osten bei - einzigartig in Anspruch und Zielsetzung. Das 1995 gegründete Parents Circle - Families Forum (PCFF) (Elternkreis - Familienforum) besteht aus mehr als 500 israelischen und palästinensischen Familien, die Kinder oder nahe Angehörige im Nahost-Konflikt verloren haben. Und die sich nun mit aller Kraft für einen Dialog und eine Versöhnung zwischen ihren Völkern einsetzen.

Gründer war der Israeli Yitzhak Frankenthal; sein Sohn Arik war ein Jahr zuvor als Anhalter von der radikalislamischen Hamas entführt und kaltblütig ermordet worden.

"Ich glaube, dass wir Israelis sehr oft zu Opfern unserer eigenen Ängste und unserer geschichtlichen Erfahrungen werden", sagt Aaron Barnea. "Und manchmal nutzen skrupellose Politiker diese Ängste, um ihre mythisch motivierten Pläne voranzutreiben. Der Libanon-Feldzug war ein Fehler. Wir - meine Familie und ich - glaubten, dass Israel, indem es den Süden Libanons besetzte, der Hisbollah den denkbar besten Vorwand für einen Krieg gegen die Israelis liefert. Die Hisbollah kannte meinen Sohn gar nicht, sie zielte auch nicht auf ihn persönlich - sondern auf den Besatzer."

Sein Partner Khaled ist inzwischen Leiter des palästinensischen Zweiges des Parents Circle. Hätte ihn der Schmerz über den Verlust seiner beiden Brüder nicht in die Arme der Hamas treiben können? "Ja, das hätte geschehen können", räumt Khaled ein. "Doch das ist eine Frage deiner inneren Stärke, wie sehr du deine Wut kontrollieren kannst. Als ich den ersten Bruder verlor, habe ich mir den Kopf zermartert: Warum musste ausgerechnet er sterben? Wer hat meinen Bruder getötet? Wie lautet sein Name? Woher stammt er? Doch dann geht dieser Moment des Zorns vorbei und du sagst dir: Der Kern des Problems ist gar nicht Yousef, und es ist auch nicht der Israeli, der ihn tötete. Es ist dieser Konflikt zwischen unseren Völkern. Yousef war ein feiner Kerl - und der Israeli, der ihn tötete, vielleicht auch. Wenn wir Hass zulassen, wenn wir die Kontrolle über uns verlieren, dann tun wir uns gegenseitig furchtbare Dinge an."

Khaleds Vision geht sogar über die Zwei-Staaten-Lösung hinaus, um die auf politischer Ebene so erbittert gerungen wird. Er glaubt, dass die beiden Völker eines Tages in einem Staat zusammenleben sollten.

Ist dieser verfahrene Konflikt überhaupt noch lösbar? "Ja! Er ist ohne Zweifel lösbar", ist sich Aaron sicher. "Aber nur solange es uns gelingt, ihn auf die Frage eines rein territorialen Konfliktes zu begrenzen. Denn wenn er zum religiösen Konflikt wird, gar einen mythisch-nationalen Charakter bekommt, dann gibt es keinen Ausweg mehr aus der Krise. Für Leute, die in diesen Dimensionen denken, wird der Konflikt zur existenziellen Frage, die nicht mehr durch politische Abkommen gelöst werden kann. Doch solange wir begreifen, dass es ein Konflikt zwischen zwei Völkern um dasselbe Stück Land ist, ein Land, das zwischen ihnen geteilt werden kann - so lange kann der Nahost-Konflikt gelöst werden."

Aaron Barnea betont: "Versöhnung zwischen den Menschen ist möglich - aber Politiker müssen dazu gedrängt werden, Frieden zu schließen."