Kommentar

Es gibt Zahlen, die jedes gedankliche Fassungsvermögen sprengen. Dazu gehört die Zahl von bis zu 27 Millionen Todesopfern des Hitlerschen "Unternehmens Barbarossa". 27 Millionen Männer, Frauen und Kinder - das ist mehr als die Bevölkerungen Belgiens und der Niederlande zusammengenommen - fielen dem Wüten von Wehrmacht und SS-Sondertruppen zum Opfer.

Es ist eine Wunde auf der russischen Seele, die wohl nie ganz heilen wird. Daß die Russen den Tag des Kriegsendes feiern, ist daher selbstverständlich; Forderungen nach einem "Schlußstrich" verbieten sich auch hier.

Keineswegs selbstverständlich ist aber, wenn der russische Präsident bei diesem Anlaß vor aller Welt die Versöhnung ausgerechnet mit den Deutschen als "leuchtendes Beispiel" für die ganze Welt lobt. Und schon gar nicht selbstverständlich ist, daß außer dem deutschen Regierungschef auch Kriegsveteranen der Wehrmacht bei den russischen Feierlichkeiten willkommen sind. Es ist bezeichnend für den langen Weg aus der Feindschaft, den Deutsche und Russen bereits zurückgelegt haben.

Eine friedvolle, gedeihliche Beziehung zu Rußland ist für Deutschland lebenswichtig und eine östliche Ergänzung zur bewährten Westbindung, nicht aber deren Alternative. Deutschlands Weg nach 1945 verlief politisch geradlinig, vom russischen kann man das nicht behaupten. Nach der langen Sowjettyrannei balanciert die gefallene Supermacht auf einem schmalen Grat zwischen Autokratie und Demokratie, Marktwirtschaft, Dirigismus und Raubkapitalismus. 60 Jahre nach dem Sieg hat die Freiheit in Rußland noch immer nicht endgültig gewonnen.

Es ist ein Geschenk der Geschichte an die Deutschen, daß sie nun mit kritischer, wachsamer Solidarität dazu beitragen können, neues Leid von ihren neuen Freunden abzuwenden.