Aufruhr gegen den Wahlbetrug in der Ukraine. Hunderttausende fordern Staatsmacht heraus. Auch EU erhöht den Druck. Schröder rief besorgt bei Putin an.

Kiew/Hamburg. Im dramatischen Ringen um die Macht in der Ukraine haben sich gestern die Fronten weiter verhärtet. Mit Rufen wie "Schande, Schande" reagierten Zehntausende Oppositionelle auf die Bekanntgabe der Regierung in Kiew, ihr Kandidat Viktor Janukowitsch habe die Stichwahl um das Präsidentenamt gewonnen. "Ab jetzt wird die Straße entscheiden", drohte ein regimekritischer Abgeordneter.

Tausende Demonstranten zogen am Abend aufgebracht zum Gebäude der Wahlkommission, die Gefahr einer Konfrontation mit der Staatsmacht wuchs unaufhörlich.

Der bei der Präsidentenwahl angeblich unterlegene prowestliche Kandidat Viktor Juschtschenko warf der Regierung vor, sie plane den Einsatz der Armee, um Proteste gegen Wahlfälschungen niederzuschlagen. Er rief Armee und Polizei dazu auf, "eine Tragödie zu verhindern". Der noch amtierende Präsident Leonid Kutschma schloß Gewalt gegen Demonstranten jedoch kategorisch aus. Verteidigungsminister Alexander Kusmuk dementierte Meldungen über Truppenbewegungen und rief die Streitkräfte zur Ruhe auf.

Seitens der Europäischen Union warnte der Außenbeauftragte Javier Solana die Regierung der Ukraine ausdrücklich vor einer Eskalation. Er habe "keinen Zweifel" daran, daß die Stimmen teilweise "auf betrügerische Weise" gezählt worden seien.

Die Zentrale Wahlkommission in Kiew hatte am Abend offiziell erklärt, Janukowitsch habe die Wahl mit 49,61 Prozent der Stimmen vor Juschtschenko mit 46,61 Prozent gewonnen.

Zehntausende Anhänger des angeblich unterlegenen Juschtschenko, der eine Wiederholung der Stichwahl forderte, zogen wieder durch die Straßen von Kiew und Lwiw. In Kiew wurden Zeltlager der Juschtschenko- und der Janukowitsch-Anhänger errichtet. Der umstrittene prorussische Ministerpräsident genießt vor allem bei den großrussisch gesinnten Kosaken Sympathie. Die griechisch-katholische Kirche der Ukraine stellte sich dagegen hinter die Juschtschenko-Anhänger. Auch ergriffen weltweit 150 ukrainische Diplomaten Partei für die Opposition.

Deren Vertreter erklärten, sie würden allenfalls Verhandlungen mit Janukowitsch führen, bei denen es um die Modalitäten der Machtübergabe gehe. Juschtschenko hatte sich am Vortag selber zum Wahlsieger erklärt und bereits den Amtseid des Staatspräsidenten abgelegt. Der stark unter Druck geratene Janukowitsch sagte, er selbst wolle ein Wahlergebnis erst anerkennen, wenn die Rechtmäßigkeit der Auszählung belegt sei.

Und daran gibt es handfeste Zweifel. Claire Buchan, Sprecherin des Weißen Hauses, sagte, die US-Regierung sei über "umfangreiche und glaubwürdige Anzeichen für Betrug" zutiefst besorgt.

Zu Spannungen mit Rußland kam es, als die für Europa zuständige US-Vizeaußenministerin Elizabeth Jones von Präsident Wladimir Putin wissen wollte, warum er Janukowitsch schon gleich nach der Wahl zum Sieg gratuliert habe. Rußlands Botschafter Juri Uschakow wurde ins US-Außenministerium einbestellt.

Moskaus Außenamt dagegen geißelte die "Einmischung in die inneren Angelegenheiten zweier Staaten" und warf EU und USA vor, mit der Parteinahme für Juschtschenko die Opposition zur Gewalt aufzustacheln. Das russische Unterhaus, die Duma, stellte sich in einer Abstimmung demonstrativ hinter Janukowitsch. EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Durao Barroso warnte die Ukraine vor "nachhaltigem Schaden" der Beziehungen zur EU. Kiew strebt einen EU-Beitritt für das Jahr 2010 an, das Schicksal eines geplanten Kooperationsabkommens mit Brüssel hängt nun am seidenen Faden. Die niederländische Regierung, die zur Zeit den EU-Ratsvorsitz hat, beschloß, im Namen der EU einen Sonderbeauftragten nach Kiew zu schicken. Auch soll das heikle Thema heute beim EU-Rußland-Gipfel zur Sprache kommen.

Bundeskanzler Gerhard Schröder, der ebenfalls von "massiven Wahlfälschungen" sprach, bemühte sich, seinen Einfluß auf Kremlchef Putin geltend zu machen. In einem langen Telefonat machte er dem russischen Präsidenten seine Sorge über die Entwicklung in der Ukraine klar. Putin stimmte zu, daß der Konflikt gewaltfrei gelöst werden müsse.

Besonders deutlich und couragiert äußerten sich vier ukrainische Diplomaten in Washington. Sie kritisierten, die Wähler daheim seien Drohungen, Terror und massivem Betrug ausgesetzt gewesen, und erklärten: "Wir können nicht schweigend wegschauen, wenn die Zukunft der Ukraine zusammen mit der unserer Kinder begraben wird."