Der Sturmangriff war nicht geplant. Doch dann zündeten die Geiselnehmer inmitten der gefangenen Kinder eine Handgranate . . .

Beslan. Um 13.07 Uhr bricht die Hölle los. Die erste Explosion dröhnt, und damit nimmt das Geiseldrama die schlimmstmögliche Wende. 51 Stunden nach dem Überfall auf Kinder, die in der Schule von Beslan fröhlich den Beginn des Schuljahres feierten, unter ihnen viele Erstklässler, kommt es zum Blutbad. Nach offiziellen Angaben hatte der russische Zivilschutz mit den Terroristen vereinbart, dass Leichen von ermordeten Geiseln auf dem Schulhof mit zwei Wagen geborgen werden dürfen. Doch plötzlich explodiert eine Granate.

Etwa 40 Kinder flüchten in Panik und Todesangst, die Terroristen eröffnen rücksichtslos das Feuer auf sie. Die Sicherheitskräfte schießen zurück. Aus dem Schusswechsel wird schließlich der Sturmangriff der Eliteeinheiten. In das Dach der Turnhalle wird ein Loch gesprengt, es bricht in sich zusammen.

Minuten nach den ersten Schüssen rattern Kampfhubschrauber über die Schule hinweg. Soldaten dringen in das Gebäude ein und laufen in das Feuer der Terroristen. Einer von denen habe eine Handgranate mitten zwischen den Kindern gezündet und mit einer Maschinenpistole auf sie geschossen, heißt es entsetzt im Krisenstab.

In dem Chaos gelingt mehreren Kidnappern die Flucht in benachbarte Gärten und Wohnhäuser. Angeblich haben einige von ihnen noch Kinder als Geiseln. Elitesoldaten verfolgen sie. Es entspinnt sich ein stundenlanger Kampf. Trotz der andauernden Schusswechsel drängen die Einwohner von Beslan in jede Lücke, die die Soldaten lassen. Die Angehörigen der Geiseln heben Autos weg, die die Zufahrtswege der Krankenwagen blockieren. In der chaotischen Rettungsaktion werden die zahlreichen Krankenwagen kurzerhand durch Privatautos ergänzt.

Neben dem Kulturhaus der Stadt entladen sich zwei quälende Tage voll Angst und Hilflosigkeit fast in Lynchjustiz. Ein Polizist schleppt einen jungen Kerl am Ärmel, auf den sich die Menge wild stürzt. "Ich gehöre nicht dazu!", schreit der junge Mann um sein Leben. Der Polizist muss Warnschüsse abgeben.

An der Oktober-Straße, etwa 150 Meter von der Schule entfernt, wird auch nach drei Stunden noch geschossen, doch die Menschen stehen dicht gedrängt und achten nicht auf die Gefahr. Leichen liegen zugedeckt am Straßenrand, Frauen und Kinder. Ein Mann hat offenbar sein Kind entdeckt und hockt hemmungslos weinend daneben. Soldaten schleppen einen Stapel Leichensäcke heran. "Vorsichtig", befiehlt ein Offizier mit belegter Stimme. "Packt sie vorsichtig ein!" Frauen fallen nach ihrer Flucht aus der Schule in Ohnmacht. Kindern steht die Angst im Gesicht geschrieben, sie können nicht sprechen, sind am Ende ihrer Kräfte.

Immer mehr Kinder, viele von ihnen halb nackt, flüchten aus dem Gebäude, rennen ziellos durch die Straßen. Andere stürzen halb verdurstet auf die Soldaten zu, die ihnen Wasserflaschen entgegenhalten. Mehr als 48 Stunden mussten sie zusammengepfercht und ohne Wasser in der überhitzten Turnhalle der Schule aushalten. "Wir haben Urin getrunken", berichtet ein Junge. Ohne Unterlass schleppen Zivilisten und Soldaten auf Tragbahren Tote und Verletzte aus dem Gebäude; unter den weißen Leichentüchern zeichnen sich auch ganz kleine Körper ab.

In seinen Armen trägt ein Soldat einen kleinen Jungen, der sein Bein verloren hat. Zivilisten bergen auf einer Trage ein kleines Mädchen mit einer klaffenden Rückenwunde. Andere schleppen Geiseln aus dem Gebäude, die unverletzt, aber offensichtlich zu schwach sind, um selbst zu laufen. Von einer Trage schreit eine Frau verzweifelt, "Ihr müsst zurück, mein Kind ist noch da drin." Langsam beginnen die geschockten Kinder zu erzählen: "Sie haben vom Dach aus auf uns geschossen", sagt ein Junge. Ein Erstklässler berichtigt ihn: "Nein, die haben vom zweiten Stock geschossen."

Viele der geflohenen Geiseln haben nur noch die Unterhose an. In der Turnhalle der Schule zusammengepfercht, hätten sie die Hitze sonst kaum ertragen. Verletzte werden hastig zu einem Feldlazarett gebracht, das in aller Eile hinter Schützenpanzern errichtet wurde. "Ich helfe dir", sagt ein Mann in Tarnuniform zu einem weinenden Kind. Frauen umringen die Gruppe und versuchen zu trösten: "Es ist alles gut, alles ist gut." Weinend führt ein Mann einen Jungen herbei, dessen Körper mit Schlamm und Blut verschmiert ist. Ein Rettungswagen rast vorbei, die Fenster sind mit Blut verschmiert.

Ganz Beslan scheint auf den Beinen zu sein. Alle packen mit an. Angehörige nehmen ihre Kinder in den Arm. Sie weinen vor Erleichterung. Andere in namenlosem Schmerz.