Iskenderun/Istanbul. Hoffnung vor Trümmermeeren, Verzweiflung am Flughafen und Feuer auf Bürgersteigen: Unsere Reporter erleben eine traumatisierte Türkei.

Die Wucht des Bebens reicht weit über das Epizentrum hinaus, weit hinweg über die Berge und Täler im Süden der Türkei. Sie trifft Gate G3F am Istanbuler Flughafen um kurz nach 22 Uhr Ortszeit, drei Tage nach der Erschütterung. In der Abflughalle sitzen Hunderte Menschen auf den Sitzreihen, blicken immer wieder auf die Anzeigetafel. Der Flug TK2018 von Istanbul in die türkische Stadt Kayseri verzögert sich seit Stunden. Immer wieder schiebt sich die Abflugzeit nach hinten.

Draußen liegt Schnee, ein kalter Wind weht über das Flugfeld. Plötzlich Schreie. Ein Mann brüllt am Schalter das Flugpersonal an. Unruhe, Menschen bilden eine Traube. Andere Passagiere mischen sich ein. Dann rennt der Mann weg, schmeißt seinen Rollkoffer weg, wirft sich auf den Boden. Bleibt liegen. Wartende Passagiere bücken sich zu ihm, wollen ihm hochhelfen. Viele Menschen warten an diesem Abend am Istanbuler Flughafen, um zu ihren Familien ins Erdbebengebiet im Süden zu fliegen.

Unsere Reporter Reto Klar und Christian Unger in der Erdbebenregion in der Türkei.
Unsere Reporter Reto Klar und Christian Unger in der Erdbebenregion in der Türkei. © Reto Klar | Reto Klar

Bangen um Verschüttete: Jede Stunde zählt

Sie konnten noch eines der Flugtickets in die Region kaufen, viele Maschinen sind ausgebucht, die Preise nach dem Beben gestiegen. Auch Teams von Journalisten und Bergungsspezialisten warten in der Halle. Die Familienangehörigen kennen die Bilder der Trümmerwüsten aus dem Fernsehen, viele haben Kontakt zu den Überlebenden. Und die Menschen an Gate G3F wissen, dass jede Stunde zählt. Jede Stunde die vergeht, fern von ihrer Familie in der Not.

„Wir müssen schauen. Und wenn wir nur noch die Toten ehrenhaft beerdigen können, dann ist das wenigstens unsere Pflicht“, sagt ein Mann am Gate, der am nächsten Morgen von der Metropole Kayseri mit dem Auto in die besonders schwer betroffene Region bei Kahramanmaras reisen will.

Mehr als 20.000 Todesopfer gefunden bis Freitag

Die Emotionen am Gate sind Szenen eines verwundeten Landes. Momente einer traumatisierten Türkei. Die Zahl der Toten klettert seit der Nacht zum Montag jeden Tag weiter, mehr als 20.000 sollen es am Freitagmorgen schon sein. Nicht nur hier, sondern auch im Nachbarland Syrien, das stark von dem Beben am vergangenen Sonntag betroffen war.

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Tage nach den Erschütterungen läuft die Hilfe für das Land auf Hochtouren. Dutzende Länder schicken Rettungsteams, Lebensmittel, Decken, Verbandsmaterial, Monitore zur Überwachung von Patienten für Krankenhäuser. Nach Angaben der türkischen Behörden sind mehr als 100.000 Helfer im Einsatz, darunter auch Mitarbeitende des Technischen Hilfswerks (THW) aus Deutschland, viele Nichtregierungsorganisationen aus aller Welt.

Überlebende: Helfer haben noch Hoffnung

Im Zentrum der Küstenstadt Iskenderun im Süden der Türkei lodern Lagerfeuer auf den Bürgersteigen. Menschen wärmen sich an den Flammen, hocken auf den Kantsteinen, klammern die Hände um einen Becher Tee. Es ist Nacht geworden in Iskenderun, die Temperaturen fallen in Richtung Gefrierpunkt. Wie Mahnwachen markieren Feuer und Menschen alle paar Hundert Meter die Wunden, die das Beben in die Stadt gerissen haben.

Die Menschen wärmen sich an Lagerfeuern.
Die Menschen wärmen sich an Lagerfeuern. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Wenige Meter entfernt von den Feuern strahlt grelles Licht aus Scheinwerfern auf die Berge aus Schutt, Stahl und Beton. Bagger sind im Einsatz, schaufeln Trümmer beiseite, Kräne heben schwere Platten aus Zement, Rettungskräfte durchströmen die Trümmer. „Wir beginnen heute mit dem Bergen der Toten“, sagt Ali, ein 37 Jahre alter Mann. Er trägt Schutzkleidung, Helm, hält ein Funkgerät in der Hand. „Aber wir haben auch noch Hoffnung, Lebende zu finden.“

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In Izmir bebte schon 2020 die Erde

Immer wieder gibt es auch fast 100 Stunden nach dem Beben Meldungen, dass Helfer Überlebende aus den Trümmern befreien. In Kahramanmaras sollen Retter an diesem Tag eine Mutter und ihre Tochter befreit haben. Ali ist Retter bei der Organisation „AKUT“, ein Verein von Ärzten und Kletterern, die ehrenamtlich in Notlagen wie diesen Helfen. Viele halfen schon beim schweren Erdbeben 2020 in der türkischen Stadt Izmir.

Für Ali ist es der erste Einsatz bei einem Erdbeben. „Wenn ich die Uniform unseres Teams trage, gibt mir das Kraft“, sagt er. Ein Helfer der Gruppe steht gerade in der Schaufel eines großen Baggers. Mit einem Presslufthammer bohrt er Löcher in eine schräge liegende lastwagengroße Betonplatte. Sie wollen die Platte mit einem Kran heben, darunter weiter nach Lebenden suchen. Und auch nach Toten.

Die Helfer müssen auswählen, wo sie zuerst helfen

Ein Wohnhaus stürzte hier ein, daneben auch eine Schule. Nachts, als das Beben kam, waren keine Kinder in dem Gebäude. Auf einer Betonplatte am Straßenrand sammeln Rettungskräfte alles, was sie aus den Trümmern ziehen: eine Handtasche liegt dort, Kleider, Kuscheltiere, Bücher. Auch Fotos liegen dort, eines von ihnen zeigt ein Mann mit Anzug, er umarmt eine Frau mit Kleid. Es sieht aus, wie ein Bild von einer Hochzeit. Sie tanzen.

Die zerstörten Häuser in Iskenderun und anderen Städten sind so zahlreich, dass die Helfer auswählen müssen, wo sie helfen, und wann sie einen Einsatz aufgeben und weiterziehen. „Immer wieder flehen uns Angehörige an, noch weiter zu suchen“, sagt Helfer Ali. „Aber wir müssen professionell bleiben, wir müssen klar unseren Einsatzplänen folgen. So schwer das ist.“

Ein Trümmermeer: Die Stadt Iskenderun im Süden der Türkei am 10. Februar 2023.
Ein Trümmermeer: Die Stadt Iskenderun im Süden der Türkei am 10. Februar 2023. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Eine Frau sucht mit der Handy-Taschenlampe nach Habseligkeiten

Vor ein paar Minuten sei gerade wieder ein Mann zu ihnen gekommen, auch er verzweifelt. „Er hat uns angeschrien, er machte uns Vorwürfe.“ Zwei seiner Kinder habe der Vater in den Trümmern verloren, sagt Ali. „Ich verstehe jeden, der uns anschreit. Ich versuche, ruhig zu bleiben.“

Und so stehen nicht überall an den zerstörten Häusern Kräne, Bagger und Hilfstrupps. Einige Hundert Meter entfernt von Ali und dem AKUT-Team klettert eine junge Frau über Beton und Stahl. Mit der Taschenlampe ihres Handys sucht sie in den Trümmern nach Habseligkeiten. Neben dem Schutt stehen Männer um ein Lagerfeuer.

Erdbebenregion so groß wie Deutschland

Einer von ihnen sagt, dass hier noch vier Menschen begraben liegen. Aber niemand kann die Leichen in diesem Moment bergen. Es sind zu viele in einer Region des Bebens, das so groß wie Deutschland ist. Viele Häuser in der Innenstadt von Iskenderun sind zerstört, viele stehen noch. Doch sie sind dunkel. Leer. In keinem Zimmer brennt Licht.

Niemand geht zurück in seine Wohnung, auch wenn ihr Haus steht. Alle haben Angst vor weiteren Beben. Menschen harren die kalte Nacht an Lagerfeuern aus, andere schlafen in Zelten, in Sporthallen, Hotels oder in ihren Autos. Die Helfer nach dem Beben müssen nicht nur Überlebende retten, Leichen bergen, Schutt räumen. Sie müssen auch Zehntausende Obdachlose versorgen. Die türkische Katastrophenschutzorganisation AFAD hat mehrere Zeltlager aufgebaut. Tausende Freiwillige versorgen dort die Menschen.

„Psssst!“: Die Helfer lauschen nach Lebenszeichen

Auch die Busfahrer helfen. Am Tag 4 nach dem Beben startet eine Fahrt vom Busbahnhof in Kayseri in Richtung Küstenstadt Adana. Kurz danach hält der Fahrer an einer Bäckerei, Männer laden ein Dutzend müllsackgroße Plastiktüten mit Brötchen und Brot in die Ladeluke. Vorne, an die Motorhaube, kleben sie eine türkische Nationalflagge. Ihren Linienbus machen sie zu einem Hilfstransport.

In den Stunden der Nacht von Iskenderun wird es auf einmal still um Retter Ali und die Helfer. Das Knattern der Generatoren stoppt, auch das Hämmern der Presslufthammer. Die Kräne schalten die Scheinwerfer aus. „Psssst!“ Menschen an den Trümmern und um die Lagerfeuer schweigen. Manche gehen näher zu dem Schutt, richten ihr Ohr in Richtung Trümmer. Rettungskräfte sagen, sie haben ein Lebenszeichen gehört. Alle lauschen.

Aus den Trümmern hallen kurz danach dumpf die Rufe der Helfer nach draußen. Sie schreien nach den Verschütteten. Sie versuchen das Signal zu orten, Tage nach dem Beben. Kurz darauf werden die Rufe lauter, die Helfer klettern aus den Schächten zwischen Schutt und Beton wieder nach oben auf den Trümmerhaufen. Die Scheinwerfer der Kräne gehen an, die Generatoren knattern wieder. Ein Lebenszeichen konnten die Helfer doch nicht hören. Es war ein Fehlalarm.