Bundestrainer Löw soll bei der EM die spielstärkste DFB-Mannschaft seit Jahrzehnten ins Finale führen. Die Auswahl ist groß wie nie.

Hamburg. Man hätte nicht erahnen können, ob er gerade über einen Sieg oder eine Niederlage referierte. Joachim Löw gab zwar zu, angesichts des Formhochs seiner Mannschaft nur zu gerne eine Zeitmaschine in Anspruch nehmen zu wollen und die EM in Polen und der Ukraine gleich morgen beginnen zu lassen. Aber jegliche Spur von Euphorie suchte man beim Bundestrainer nach dem glanzvollen 3:0-Erfolg in Hamburg vergebens. Dabei hat sich unter seiner Führung die spielerisch stärkste Nationalmannschaft seit 1972 entwickelt. Der feine Unterschied: Die Elf um Günter Netzer konnte ihr Können mit einem EM-Titel krönen. Ob die aktuelle DFB-Auswahl ihr Potenzial bei der EM 2012 gewinnbringend einsetzen kann, weiß keiner. Was jedoch Mut macht, ist die ungewöhnlich große Anzahl an herausragenden Fußballern. Anders als früher würde der Ausfall einiger Spieler nicht zwangsläufig zu einem Leistungsabfall führen.

+++Kommentar: Jetzt bloß nicht nachlassen+++

Ein Über- und Ausblick auf die Generation 2012:

Torhüter: Manuel Neuer bleibt eine Klasse für sich. Weltweit gibt es derzeit keinen besseren Keeper als Bayerns Vorzeigeprofi, der die gesamte Palette des Torwartspiels beherrscht. Der 25-Jährige ist auf der Linie stark, hat eine herausragende Strafraumbeherrschung und versteht es wie kein Zweiter, ein Spiel durch gezielte Abwürfe schnell zu machen. Als deutsche Nummer zwei dürfte Bremens Tim Wiese gesetzt sein, als dritter Torhüter ist Hannovers Ron-Robert Zieler vorgesehen, der seine guten Leistungen bestätigen muss. Zuletzt lobte Löw auch Gladbachs Marc-André ter Stegen, der verletzte René Adler hat Außenseiterchancen.

Rechtsverteidiger: Die Position rechts in der Viererkette bleibt die Achillesferse im deutschen Team. Der frühere Hamburger Jerome Boateng konnte auf der ungeliebten Position genauso wenig überzeugen wie Wolfsburgs Christian Träsch oder Schalkes Benedikt Höwedes. Das Problem: Keiner der dreien ist ein gelernter Rechtsverteidiger. Trotz wechselhafter Leistungen dürfte Bayerns Boateng die Nase vorn haben.

Innenverteidiger: Abwehrchef der jungen deutschen Mannschaft soll Per Mertesacker werden, dem Löw auch in dessen vierten großen Turnier eine Führungsrolle zutraut. Allerdings muss der Neu-Londoner auch bei Arsenal seine frühere Leistungsstärke möglichst schnell wieder finden.

Innenverteidiger: Neben Mertesacker bewirbt sich ein Quartett um die Position des zweiten Innenverteidigers. Bayerns Holger Badstuber und Dortmunds Mats Hummels haben die besten Chancen, Boateng und Höwedes werden dagegen nur Außenseiterchancen eingeräumt, da beide als Rechtsverteidiger gebraucht werden. Eine Entscheidung wird erst unmittelbar vor der EM fallen.

Linksverteidiger: Kapitän Philipp Lahm gehört trotz einer alles in allem nur durchschnittlichen Saison immer noch zu den besten Außenverteidigern der Welt. Der passionierte Buchautor ist sowohl bei Bayern als auch in der Nationalelf gesetzt. Spannend bleibt die Frage, wer sich für die Rolle des Back-ups empfehlen kann. Sowohl Hamburgs Dennis Aogo als auch Dortmunds Marcel Schmelzer haben durchaus noch Luft nach oben. Vorteil Aogo: Der HSV-Profi ist bei Weitem nicht so verletzungsanfällig wie sein Konkurrent. Vorteil Schmelzer: Der Borusse kann sich mit Dortmund auch in internationalen Spielen empfehlen.

Defensives Mittelfeld: Bastian Schweinsteiger ist das Herzstück dieser titelreifen Mannschaft. Der Mittelfeld-Stratege kann ein Spiel lesen und dirigieren, ist zweikampf- und offensivstark und mittlerweile auf einer Stufe mit den Spaniern Xavi und Iniesta. Er ist der emotionale Führer dieser Mannschaft.

Defensives Mittelfeld: Bei der Besetzung der Position neben Schweinsteiger steht Löw vor einem echten Luxusproblem. Sowohl Toni Kroos als auch Real Madrids Sami Khedira dürfen sich berechtigte Hoffnungen auf ihren Platz in der Stammelf machen. Die aktuelle Form spricht dabei klar für Bayerns Kroos, der in dieser Saison den größten Entwicklungssprung aller Nationalspieler gemacht hat. Ähnlich wie Schweinsteiger kann mittlerweile auch Kroos dem Spiel seinen Stempel aufdrücken. Khedira hat dagegen den Vorteil, in einem sehr offensiv ausgerichteten Team der bessere Defensivspezialist zu sein. Das Rennen bleibt offen.

Rechtes Mittelfeld: Thomas Müller ist aus der deutschen Mannschaft nicht mehr wegzudenken. Der gerade mal 22-Jährige ist trotz herausragender Spieler wie Marco Reus, Mario Götze oder André Schürrle, die alle auf seiner Position spielen könnten, unantastbar. Niemand in der deutschen Mannschaft, auch nicht Reals Überflieger Mesut Özil, verkörpert den erneuten Entwicklungsschub dieses Teams nach der bereits beeindruckenden WM 2010 besser als der Münchner. Wenn Schweinsteiger das Herz der Mannschaft ist, dann ist Müller die Seele dieses Teams.

Offensives Mittelfeld: Der "galaktische" Mesut Özil von Real Madrid hat sich in Spanien durchgesetzt und bleibt auch beim DFB der Mann für die besonderen Momente. Niemand streichelt den Ball so zärtlich wie der Deutsch-Türke. Spannend wird sein, ob Özil in einem veränderten System auch mit Mario Götze zusammenspielen könnte. Der erste Test in der Ukraine misslang.

Linkes Mittelfeld: In der Bundesliga konnte Lukas Podolski zuletzt durchaus überzeugen, in der Nationalmannschaft wird es der Kölner schwer haben, seinen Stammplatz im linken offensiven Mittelfeld gegen André Schürrle zu verteidigen. Profitieren könnte Podolski vom Zusammenspiel mit Lahm, der in den letzten Spielen geschont wurde.

Stürmer: Fast schon bizarr ist Löws Luxussituation im Angriff. Obwohl Mario Gomez in der Bundesliga Woche für Woche trifft, führt im Nationalteam kein Weg an Miroslav Klose vorbei. Der 33-jährige Oldie wird von Jahr zu Jahr besser. Gegenüber Gomez hat Klose den Vorteil, dass er ein mitspielender Angreifer ist, der somit perfekt in Löws variables 4-2-3-1-System passt. Wenn Klose seine Form bis in den kommenden Sommer konservieren kann, ist der Neu-Römer ein ernsthafter Kandidat für den Titel des Turnier-Torjägers.