Vor dem morgigen Spiel in der Ukraine spricht DFB-Teammanager Oliver Bierhoff über die neue Spielergeneration in der Nationalmannschaft.

Hamburg. Heute um 11.30 Uhr hebt die deutsche Nationalmannschaft von Fuhlsbüttel Richtung Kiew ab. Dort spielt das Team am Freitag (20.45 Uhr, MEZ, ARD) gegen EM-Co-Gastgeber Ukraine. Dienstag steigt dann in der Imtech-Arena das Spiel gegen die Niederlande. Am Tag vor dem Abflug besuchte DFB-Teammanager Oliver Bierhoff, 43, die Abendblatt-Redaktion.

Hamburger Abendblatt: Herr Bierhoff, beim letzten Länderspiel 2009 in Hamburg gegen Finnland (1:1) gab es viele Pfiffe. Kommt es am Dienstag gegen die Niederlande im Volkspark zur großen Versöhnung mit den Hamburgern?

Oliver Bierhoff: Provokant könnte ich jetzt sagen, dass die Hamburger doch froh sein müssten, internationalen Fußball sehen zu dürfen (lacht) . Aber im Ernst: Ich hoffe es natürlich. Mit Phänomenen wie gegen Finnland müssen wir umso mehr leben, je besser unsere Mannschaft spielt. Jeder Zuschauer wünscht sich mit dem Erwerb eines Tickets ein rauschendes Fußballfest. Wenn dieses ausbleibt, macht sich Unzufriedenheit breit.

Können Euphorie und Erwartung zur Bürde werden?

Bierhoff: Der Druck ist enorm, das merkt man. Wenn ich mich erinnere, wie zu meiner Zeit die Länderspiele ausgesehen haben ... Aber auch die jungen Spieler haben hohe Ansprüche und sind im Umgang mit Druck geschulter. Ich habe eher Sorge, dass der jeweilige Gegner in Deutschland unterschätzt wird. Alle reden mit Blick auf die EM immer nur von Spanien, davor warne ich. Die anderen Nationen holen auf. Das wird kein Spaziergang, bis man auf die Spanier trifft.

Inwiefern ist die Partie gegen die Niederlande eine Standortbestimmung?

Bierhoff: Ich stufe Holland als die stärkste Mannschaft ein, auf die wir in diesem Jahr treffen.

Hat die Nationalmannschaft das Niveau seit der WM 2010 steigern können?

Bierhoff: Definitiv. 2006 war es so, dass vor allem Jürgen Klinsmann die Mannschaft mit Begeisterung und Engagement getrieben und gezogen hat. Wir haben damals viel von Erfahrung und Einsatz gelebt. Zur EM 2008 gab es mit einer ähnlichen Mannschaft eine leichte Weiterentwicklung unter Joachim Löw. Dann kam ein stärkerer personeller Bruch. Und 2010 entwickelte sich eine sehr junge, dynamische Mannschaft, von der ich sage: Das ist absolut Jogis Mannschaft, die haben seine Gedanken inhaliert. Dieses Team hat sich weiterentwickelt, da etliche junge Spieler wie Özil, Müller oder Neuer wertvolle Erfahrungen sammeln konnten. Und es sind sehr schnell unglaublich interessante Spieler nachgekommen. Denken Sie an Götze, die Bender-Zwillinge, Hummels, Schürrle, Schmelzer oder Reus. Alles Spieler, die in jungen Jahren schon Stützen in ihrem Klub sind.

Löw und Sie gehen ins achte Jahr beim DFB. Wie schützt man sich vor Verschleiß?

Bierhoff: Zunächst haben wir den Vorteil gegenüber Bundesligatrainern, nicht dem Tagesgeschäft ausgesetzt zu sein. Aber natürlich gibt es Phasen nach einem Turnier, in denen man total leer und ausgelaugt ist und sich fragt: Wie gehe ich Neues an? Ich bin ja ein Freund des stetigen Wandels. Jede Phase versucht man neu anzugehen, das ist die Herausforderung. 2006 haben wir erzählt: Es gibt die einmalige Gelegenheit, ein Turnier in Deutschland zu spielen, haben auf Stolz und Ehre abgehoben. 2008 war es eher so: Jetzt müssen wir den Titel holen. 2010 hieß die Devise: Lasst uns Spaß haben und von Spiel zu Spiel denken.

Wie weit sind die Planungen für 2012 vorangeschritten? Gibt es ähnliche Aktionen wie 2010, als es in Südtirol zu einem Treffen mit Reinhold Messner kam?

Bierhoff: Natürlich stellt sich die Frage, wie man die Zeit verbringt. Wenn man wie bei der WM neuneinhalb Wochen zusammen ist, muss immer Aufmerksamkeit vorhanden sein, damit kein Lagerkoller entsteht. Wir brauchen einen Mix aus Anstrengung, Spaß, Freizeit und Freiheiten, müssen aber immer Impulse liefern. Wenn ich vom Wandel sprach: Ich tue mich schwer damit, zum fünften Mal einen Vortrag über die Berge anzubieten, das wirkt abgegriffen. Neue Ideen sind gefragt. Ich versuche immer, Vorreiter zu sein.

Ist es das, was Sie auch immer wieder antreibt? Schließlich droht ja die Gefahr, sich zurückzulehnen, wenn alles läuft.

Bierhoff: Die größten Fehler macht man ja im Erfolg. Aktuell gilt jedoch: Viele Maßnahmen greifen jetzt, da stellt sich die Frage, ob man immer Akzente setzen und Reibung erzeugen oder einfach auch mal zufrieden sein muss, dass es gut läuft. Ein guter Gradmesser ist immer, ob sich Nachlässigkeiten im Alltäglichen einschleichen, zum Beispiel Fehler im Organisatorischen. Dann merkt man: Da haben wir vorher nicht konzentriert gearbeitet. Oder wenn ein Spieler vielleicht gewisse Übungen oberflächlich runterspult. Mir ist das damals bei Frankreich aufgefallen, als sie auf der Siegeswelle waren. Als ich den Gesichtsausdruck von Thierry Henry gesehen habe nach einer vergebenen Chance, der so nonchalant schmunzelte nach dem Motto: Die nächste Chance wird schon kommen. Das ist schon der Anfang.

Wobei es die großen Reizpunkte in der Mannschaft sowieso nicht mehr gibt, schwierige Typen fehlen.

Bierhoff: Welche schwierigen Typen soll man denn eingliedern? Machen Sie mal einen Vorschlag.

Der Punkt geht an Sie. Aber ist es nicht doch ein Problem, dass Ballack und Frings fehlen, die auch den Drecksack gegeben haben? Alle sind jetzt so nett.

Bierhoff: Wir haben seit 1996 keinen Titel gewonnen, ich glaube, seitdem hatten wir genug als "Drecksäcke" bezeichnete Spielertypen in der Mannschaft. Es bedarf keines Drecksacks, der rumbrüllt oder den Stinkefinger zeigt. Ich mag sowieso diese Schwarz-Weiß-Malerei nicht. Wir brauchen Führungskräfte, klar. Aber ein Lahm, Schweinsteiger, Mertesacker, Klose übernehmen Führung. Wir haben viele Junge wie Neuer, Hummels oder Khedira, die auch Standpunkte haben. Wir brauchen Typen, die sich engagieren, die sich einbringen, keine Egal-Leute. Reibung und Auseinandersetzung untereinander haben sicherlich abgenommen gegenüber früher. Die Spieler heute sind aber auch in vielen Bereichen professioneller und individueller.

Gab es früher mehr Streit?

Bierhoff: Es gibt in so einer Gruppe immer mal Reibungen oder Ärger. Ich glaube, das Genervtsein, die Gefühle wurden früher viel offener ausgetragen, es gab mehr Gruppendenken. Zu meiner Zeit gab es den Bayern- oder Leverkusenblock, das war eine andere Umgangsart. Heute ist es im Team viel gemischter.

Mit einer flacheren Hierarchie?

Bierhoff: Klar gibt es eine Hierarchie. Spieler wie Klose, Lahm, Schweinsteiger, Mertesacker, Podolski haben andere Rechte als Neue. Anders als früher ist es mehr ein stilles Gesetz. Keiner der Jungen muckt auf, umgekehrt sagt keiner wie früher: Raus aus dem Entmüdungsbecken, jetzt komme ich.

Haben Sie ein Luxusproblem, dass im bevorzugten 4-2-3-1-System entweder Klose oder Gomez stürmen? Das Gleiche gilt bei Özil und Götze im Mittelfeld, die gegen die Ukraine nur ausnahmsweise zusammen auflaufen werden.

Bierhoff: Letztlich wünscht man sich das als Trainer. Diese Probleme gab es auch in besonders guten Zeiten. Die Medien schreien schnell nach Traummodellen, das Gute aber ist, dass wir in verschiedenen Konstellationen spielen können. Schwer war eher, dass wir wichtige Spieler nicht ersetzen konnten. Ballack im WM-Finale 2002, Frings im WM-Halbfinale 2006 oder Müller im WM-Halbfinale 2010. Jetzt fehlt mal im Mittelfeld einer, und dann zaubert plötzlich der Toni Kroos.

Ihr Vertrag läuft bis 2014. Würde Sie dann die Bundesliga reizen?

Bierhoff: Das ist weit weg. Ich habe keine Ahnung, was danach kommt. Bei der Auslosung der WM-Qualifikation für Brasilien hat mich schon wieder das Feuer gepackt. Früher dachte ich, dass es 2010 zu Ende wäre, aber jetzt bin ich froh, dass es bis zum Turnier 2014 geplant ist. Derzeit kann ich mir schwer vorstellen, dass ich von dieser WM kommen werde und einen Tag später einen Verein übernehme. Grundsätzlich ist aber entscheidend, dass man von dem überzeugt ist, was man angeht. Es passiert immer mal, dass man zu einem Gespräch gebeten und gebauchpinselt wird, wie toll man ist. Trotzdem würde ich mir das genau anschauen, um zu sehen, wie die Konstellationen sind.

Wie sehr sorgen Sie sich über die zunehmende Gewalt in der Bundesliga?

Bierhoff: Natürlich muss man das kritisch sehen. Ich habe das ja selbst in meiner aktiven Zeit in Italien erlebt. Mir wurde die Tür eingeschlagen, ich bekam Morddrohungen, dem Trainer wurden Briefbomben geschickt. Ich habe die Sorge, dass sich Gruppen aufstellen, denen das eigentliche Fantum nicht mehr wichtig ist. Den Spaß, Unruhe hereinzubringen, finde ich besorgniserregend. Die Art und Weise, wie in München mit Manuel Neuer umgegangen wurde, das geht gar nicht.

Was kann man tun?

Bierhoff: Einerseits müssen die Verbände Aktionen starten und den Dialog suchen, andererseits hoffe ich auf Zivilcourage der restlichen Fans, die sich positionieren und sagen: Das sind wir nicht.