INTERVIEW Der Nahost-Experte Michael Lüders über die zersplitterte Bevölkerung im Irak. ABENDBLATT: Was haben die Alliierten bei ihrem Irak-Feldzug nicht bedacht? Warum bekommen sie die Situation nicht so schnell in den Griff wie geplant? MICHAEL LÜDERS: Die amerikanische und britische Regierung haben gedacht, dass sie angreifen und die Iraker würden die Alliierten als Befreier begrüßen, um die fürchterliche Diktatur von Saddam Hussein endlich loszuwerden. Aber der Irak ist eine Stammesgesellschaft, und in dem Augenblick, wo ein Stamm angegriffen wird, wird er sich immer hinter seinen Führer stellen - auch wenn er Saddam Hussein heißt - , um sich zu verteidigen. Solidarität mit dem Stamm und dem Land zählen mehr als der Hass auf den Führer. ABENDBLATT: Saddam hat die Stämme aufgerufen, sich zu widersetzen. Zieht das? LÜDERS: Nur Stämme aus Saddams Heimatregion Tikrit werden sich unterwerfen. Die anderen haben sich schon von Saddam Hussein gelöst. Selbst wenn der Diktator weg ist, würde der Widerstand der Kurden im Norden und der Schiiten im Süden weitergehen. Man sieht in den Alliierten Angreifer, und man will nicht unter deren Besatzung leben. Hinzu kommt, dass die Schiiten 1991 einen Aufstand gegen Saddam wagten, dann aber von den Amerikanern im Stich gelassen und von Saddams Elite-Einheiten niedergemetzelt wurden. Die Schiiten hassen also Saddam und die Amerikaner gleichermaßen. ABENDBLATT: Wie können die USA davon ausgehen, dass die Schiiten ihnen jetzt helfen würden? LÜDERS: Ich glaube, die amerikanische Regierung hat eine völlig falsche Wahrnehmung der Verhältnisse in der Region des Nahen und Mittleren Ostens, die mehr von Wunschdenken geprägt ist als von einer nüchternen Analyse der gegebenen Verhältnisse. Die Amerikaner und Briten bombardieren das Land, und die Zivilbevölkerung soll sie als Befreier ansehen. Das funktioniert nicht. ABENDBLATT: Wie sieht der Irak der Zukunft aus? LÜDERS: Das Land wird nicht befriedet sein, so dass alle gedeihlich für Frieden und Demokratie zusammenarbeiten. Es droht eine ähnliche Situation wie in den Palästinenser-Gebieten, eine Art Dauer-Intifada gegen eine als widerrechtlich angesehene Besatzung des Landes. ABENDBLATT: US-Pläne sehen möglicherweise ein Protektorat unter Militärverwaltung vor. Kann das funktionieren? LÜDERS: Ja, wenn die Amerikaner glaubwürdig signalisieren, dass sie den Krieg in irakischem Interesse führen und die Menschen eine Perspektive haben im Irak. Aber gleichzeitig hat die Bush-Regierung gesagt, dass es für den Irak keinen Marshallplan geben wird. Also würden die Öl-Einnahmen in die Militärverwaltung fließen und nicht den Irakern zugute kommen. Dann wären die Menschen enttäuscht, die Gewaltbereitschaft entsprechend hoch. ABENDBLATT: Diese Szenarien gehen alle davon aus, dass Saddam nicht mehr an der Macht ist. LÜDERS: Saddam hat keine Zukunft mehr. Aber wenn er überlebt, wird er keine Kapitulationsurkunde unterschreiben, sondern in den Untergrund gehen. ABENDBLATT: Wie wichtig ist es für die Alliierten, dass die humanitäre Hilfe jetzt zügig anläuft? LÜDERS: Das ist alles entscheidend. Wenn Epidemien ausbrechen und die Menschen sterben, ist das in diesem Krieg, der ja auch ein Medienkrieg ist, für die Alliierten eine Katastrophe, denn sie werden dann für das Elend verantwortlich gemacht. Dann laufen sie Gefahr, diesen Krieg politisch zu verlieren, auch wenn sie ihn militärisch gewinnen werden.