Die Nikolaikirche in Leipzig war in der letzten Phase des DDR-Staats Versammlungsort für alle. Nicht nur für Gläubige. Die Botschaft der Menschen war “Frieden auf der Welt“ - zu kraftvolle Worte für die Machthaber der DDR.

Für die SED-Machthaber war das Schild eine Provokation: "Nikolaikirche offen für alle" stand vor dem Portal der ältesten Leipziger Kirche. Diese Einladung richtete sich an alle, die die bedrückenden Verhältnisse des realen Sozialismus nicht mehr ertragen konnten oder wollten. Trotzdem war die Leipziger Nikolaikirche 1989 kein politisches Instrument, wie SED und Stasi argwöhnten, keine "Schaltzentrale der Konterrevolution". Sie verkörperte vielmehr die christliche Botschaft so, wie sie für ganz unterschiedliche Menschen in der Spätphase der DDR wichtig und verständlich war.

"Nikolaikirche für alle" - dieses inzwischen an einem Fahrradständer angebrachte Schild steht noch heute vor der Hauptportal, und noch immer sind es ganz unterschiedliche Menschen, die diese Einladung annehmen: Christen, die hier Gottesdienst feiern. Friedensbewegte, die sich hier noch immer zu den Montagsgebeten treffen. Musikliebhaber, die Konzerte besuchen. Vor allem aber Touristen, für die die Nikolaikirche zu den allerwichtigsten Sehenswürdigkeiten Leipzigs zählt, weil Bach hier gewirkt hat, weil das Weihnachtsoratorium hier erstmals erklang, aufgrund der einzigartigen klassizistischen Innenraumgestaltung und vor allem, weil diese Kirche wie kein anderer Ort zum Symbol für die friedliche Revolution in der DDR geworden ist.

Treten wir also ein in den Innenraum, der in ein klassizistisches Kleid in Weiß, Apfelgrün und Rosétönen gehüllt ist, das Netzgewölbe überzogen mit einer stuckierten Kassettendecke und die mittelalterlichen Stützen zu kannelierten Säulen überformt, von Palmenwedeln bekrönt. Besucher stehen schweigend im Gang, einige setzen sich und lassen die Kirche auf sich wirken. Auch wir nehmen Platz und versetzen uns zurück in die Nachmittagsstunden des 9. Oktober 1989:

Es ist ein Montag, und jeder in der Stadt weiß, dass dieser Tag die Entscheidung bringen wird. Die Jubelfeiern zum 40. Jahrestag der DDR sind am Wochenende zu Ende gegangen, Michail Gorbatschow und die anderen Staatsgäste sind längst wieder abgereist. Nun hat Honecker freie Hand, "die Konterrevolution in Leipzig" niederzuschlagen. Schon seit dem Vormittag haben sich die "bewaffneten Organe" mit Lastwagen, Wasserwerfern und Panzerfahrzeugen rund ums Stadtzentrum postiert. Wird Honecker heute die "Pekinger Lösung" befehlen und die Leipziger Demonstrationen im Blut ersticken?

Schon vor 17 Uhr, dem offiziellen Beginn der Friedensgebete, ist die Nikolaikirche hoffnungslos überfüllt. Und auch in fünf weiteren Leipziger Innenstadtkirchen ist längst kein Platz mehr zu finden. Auf den Straßen und Plätzen stehen Zigtausende dicht bei dicht. In der Nikolaikirche haben die Menschen gemeinsam gesungen, gebetet und sich Mut gemacht. Als sie die Kirche eine Stunde später wieder verlassen wollen, sind alle umliegenden Straßen mit Demonstranten überfüllt. Ganz langsam setzt sich der Demonstrationszug über den Leipziger Innenstadtring in Bewegung, nimmt die ganze Stadt in Besitz und verändert damit ein ganzes Land. Die Menschen halten Kerzen in den Händen, singen "We shall overcome", "Dona nobis pacem" und die erste Strophe der "Internationale". Warum ausgerechnet die "Internationale"? Weil es da heißt: "Die Internationale erkämpft das Menschenrecht".

Heute wissen wir, wie dieser denkwürdige Oktobertag des Jahres 1989 verlaufen ist, wissen, dass Armee, Polizei und Staatssicherheit nicht geschossen haben, dass es der Tag der Entscheidung war. Der Tag, an dem die Friedfertigen die Mächtigen besiegen.