Region Evros: Die schwer zugängliche Landschaft lockt Umwelt-Touristen mit unberührter Natur und einer bunten Tierwelt.

Der Vogel wirkt ein bisschen wie ein Sinnbild der ganzen Region. Krank und verloren hockt der Geier in der großen Voliere - allein, verletzt. Der rechte Flügel hängt gebrochen herab, das Gefieder ist verklebt von geronnenem Blut. Misstrauisch mustert er die wenigen Besucher, die den Weg von der ostgriechischen Hafenstadt Alexandroupolis hinauf gefunden haben in die Berge und Wälder des Evros, und die nun vor der Voliere hinter dem ökologischen Informations-Zentrum von Dadia stehen.

Die Voliere wurde erst vor wenigen Monaten aufgestellt von Mitarbeitern des griechischen WWF (World Wildlife Fund) - als Pflege- und Krankenstation für verletzte Raubvögel. Denn gleich hinter dem rot-weißen Schlagbaum des Öko-Parks, knapp einen Kilometer oberhalb des Dörfchens Dadia, liegt das größte Greifvogel-Reservat Europas, ein streng geschütztes Naturreservat, in dem 38 Raubvogelarten leben. Schon 1986 hatte das griechische Umwelt-Ministerium die Wälder von Dadia zum Schutzgebiet erklärt, eine nur schwer zugängliche Landschaft mit steilen Schluchten und schroffen Felstürmen, mit hohen Kiefern und alten Steineichen. Hier hat sich eine beinahe einzigartige Tierwelt erhalten: mehr als vierzig Reptilienarten und viele Säugetiere, die in anderen Gegenden Europas längst ausgerottet wurden - Wölfe und Schakale, Wildkatzen und Braunbären.

Seit 1996 wird das Gebiet nun auch touristisch erschlossen. In dem öko-touristischen Center mit Cafeteria und Museum können sich Urlauber über die Arbeit des griechischen WWF informieren. Eine umfassende Fotoausstellung und ständige Video-Vorführungen zeigen die Flora und Fauna des Dadia-Waldes, und das kleine Hotel (30 Doppelzimmer) bietet Naturfreunden auch die Möglichkeit zu längerem Aufenthalt. Zwei gut ausgebaute Wanderpfade leiten die Besucher durch das Naturschutzgebiet zum Gipfel des 620 Meter hohen Grimbrena-Berges, von dem sich ein herrlicher Rundblick über die wild zerklüftete Landschaft des Dadia-Waldes bietet. Aus dem neuen Beobachtungsstand am Rande der Mavrorema-Schlucht können die Besucher durch schmale Sichtschlitze zuschauen, wie sich Scharen von Mönchs- und Gänsegeiern um die Futterplätze balgen.

Seit 1920 gehört das Gebiet am Westufer des Evros zu Griechenland. Auf rund 200 Kilometern bildet der Fluss, der im bulgarischen Rodopi-Gebirge entspringt und auf seinem Weg zum Thrakischen Golf wahre Unmengen von Schlamm und Geröll vor sich herschiebt, die Grenze zwischen der Türkei und Griechenland. An seiner Mündung hat er ein breites Delta aufgeschüttet, ein fruchtbares Schwemmland, das die Bauern seit Jahrhunderten zu kultivieren versuchten, mit Flussbegradigungen, dem Bau von Kanälen und Dammaufschüttungen. Erst die 1975 zum Schutz der Feuchtgebiete beschlossene Ramsar-Konvention bewahrte das Delta vor weiteren Eingriffen des Menschen.

Seitdem gilt das Mündungsgebiet des Evros als Oase vieler Wasservogelarten, die in anderen Ländern Europas längst verschwunden sind - wie der seltene Spornkiebitz oder die Zwergseeschwalbe. Auch Tausende geflügelte Wintergäste finden in der Lagunenlandschaft mit ihren unzähligen Tümpeln und Schilfinseln einen reich gedeckten Tisch vor. Nach Schätzungen von Ornithologen wird das Evros-Delta jedes Jahr von mehr als dreihundert Zugvolgelarten aufgesucht, die sich hier die Kraftreserven für die Weiterreise anfuttern.

Keine Frage: Unvergessliche Eindrücke und Erlebnisse warten auf Naturliebhaber. Wenn sie nur kommen würden! Doch die Grenzregion gilt als touristisches Niemandsland, als Griechenlands wilder Osten - trotz der vielen Milliarden aus EU-Geldern, die die Präfektur der Provinzhauptstadt Alexandroupolis in den Aufbau einer touristischen Infrastruktur investiert hat - mit neuen Hotels, neuen Straßen und Autobahnen. Neu ist auch die Straße in das kleine Städtchen Feres, in dem sich die kleinen weißen Häuser mit ihren Holzbalkonen um eine der schönsten byzantinischen Kirchen Ostgriechenlands scharen. Hier gabelt sich der Evros in zwei Arme, die ein Gebiet von rund 480 Quadratkilometern umschließen, eine wilde Wasserlandschaft mit Lagunen und Schilfinseln, mit Sandbänken und Salzmarschen, mit Auwäldern und Kanälen, gesäumt von Pappeln und Tamarisken. Das Delta gilt als eines der wichtigsten Feuchtbiotope Europas, Lebensraum von Reiher, Pelikan und Flamingo, Seeadler, Brachvogel und Schwarzstorch.

Kein Naturparadies ohne Schattenseiten: Seit Jahren liegt das Evros-Delta im politischen Spannungsfeld zwischen Griechenland und der Türkei. Immer wieder versuchen Schleuserbanden, Flüchtlinge über den Grenzfluss nach Griechenland zu schmuggeln. Kein Wunder, dass an manchen Tagen die Naturschutzgebiete nur mit polizeilicher Sondergenehmigung betreten werden dürfen. Nicht nur deshalb ist es ratsam, sich den geführten Wanderungen der Visitor-Centers anzuschließen: Das weite Schwemmland bildet auch ein unübersichtliches Labyrinth, in dem sich der allein wandernde Urlauber leicht verirren kann.