Wilde Natur und Ursprünglichkeit - wer das erleben will, muss Umwege machen. Denn diese Attraktionen liegen abseits der Küste.

Der Pfad schlängelt sich zwischen Oleanderbüschen und schulterhohen Salbeisträuchern hindurch. Es geht über Geröll und Gestein an einem ausgetrockneten Bachbett entlang. Der würzige Duft von wildem Thymian liegt in der Luft. Links und rechts ragen gewaltige Felswände - mal rostrot, mal silbergrau - empor. Eine Ziege demonstriert ihre Kletterkünste und postiert sich wie eine Gallionsfigur an der äußersten Spitze eines Felsvorsprungs. Es ist das Tal der Toten im Osten von Kreta, benannt nach den Grabhöhlen, in denen die Minoer schon im 3. Jahrhundert vor Christus ihre Toten bestatteten.

Die Schlucht führt vom Dorf Zakros zum Badestrand von Kato Zakros. Mit ihren acht Kilometern Länge ist sie längst nicht so spektakulär wie die doppelt so lange berühmte Samari-Schlucht im Südwesten der Insel, in die man aus 1200 Metern hinabsteigt. Dafür landen hier aber auch keine vollen Busladungen. Hier kann man noch in Muße die üppige Vegetation genießen und begegnet nur vereinzelt anderen Naturfreunden. Am Ende des Tals liegt die Anlage eines minoischen Palastes aus der Zeit um 1600 vor Christus, von dem allerdings nur die Grundmauern erhalten sind. Die kostbaren Fundstücke aus den Ruinen befinden sich wie bei den meisten Ausgrabungsstätten jedoch nicht hier, sondern im Archäologischen Museum von Heraklion. Zeugen der jahrtausendealten wechselvollen Geschichte liegen auf Kreta buchstäblich am Wegesrand - von der minoischen Villa bis zur venezianischen Festung.

Ein Muss im Besichtigungsprogramm ist der Palast von Knossos in der Nähe von Heraklion, der 1898 von dem Briten Arthur Evans ausgegraben und mit umstrittenen, weil nicht unbedingt authentischen Ergänzungen restauriert wurde. Troja-Entdecker Heinrich Schliemann war zuvor der großartige Fund entgangen, weil ihm der Kaufpreis für das Gelände zu hoch war. 1500 ineinander verschachtelte Räume hatte der Palast des Königs Minos, an dessen Wänden sich viele Darstellungen der Doppelaxt (griechisch: labrys) befanden. In der Mythologie wurde daraus das Labyrinth des Minotaurus. Begehbar sind noch 300 Räume. Auf der Rundtour bekommt man nur einen Bruchteil davon zu sehen. Wer am Vormittag zum Palast von Knossos aufbricht, der muss mit zahllosen Gruppen Gleichgesinnter rechnen und macht am besten wieder kehrt, um am ruhigeren Nachmittag wiederzukommen. Ohnehin konzentrieren sich vor allem im Norden die Touristenmassen auf der größten griechischen Insel. Kreta hat 550 000 Einwohner, 2,5 Millionen Touristen kommen pro Jahr dazu. Die meisten großen Hotelanlagen liegen an der Nordküste, wo es nicht nur Kieselsteine, sondern zum Teil auch schöne Sandstrände gibt. In den schmalen Gassen der malerischen Hafenanlagen der Städte Chania, Rethimnon und Agios Nikolaos drängen die Besucher an Souvenir-Shops mit Lederwaren, Gewürzen und Stickereien vorbei. Doch nur einige Serpentinen weiter ins Landesinnere lässt man den Trubel hinter sich.

Mehr als zwei Drittel der Insel bestehen aus Gebirgen, das höchste mit 2456 Metern kennt man aus Kreuzworträtseln: Ida oder auch Idi. Die Verkehrswege durch die Berge wurden zwar in den letzten Jahren mit Asphaltstraßen gut ausgebaut - nicht nur für die Touristenbusse, sondern auch für den wachsenden Autoverkehr der Einheimischen. Die schönsten Ausblicke über die Hänge mit den schachbrettartigen Feldern und den silbergrünen Blätterwäldern der Olivenbäume hat man aber auf den engen alten Straßen durch die Dörfer, in denen gerade mal zwei beladene Esel aneinander vorbeikommen, niemals aber zwei Busse. Der Preis für Naturerlebnis und Begegnungen mit den gastfreundlichen Kretern: unendliche Kurven bergauf, bergab - nichts für schwache Mägen. Zur fruchtbaren Lassithi-Hochebene mit ihren tuchbespannten Windrädern geht es sogar noch über holperige Schotterwege.

Auch in einigen Dörfern hat man sich auf den Tourismus eingestellt. Zumeist ältere Bewohner öffnen bereitwillig ihre Häuser und lassen Besucher Blicke auf ihre antiken Möbel und Familienfotos werfen. Empfangen wird man stets mit einem Raki, dem kräftigen Traubenschnaps.

Manchmal darf man auch beim Ziegenmelken helfen oder die süßen Törtchen und Hochzeitskuchen in den Bäckereien der Frauen probieren, die sich zu Genossenschaften zusammengeschlossen haben. In Amariano, einem Weindorf im Dikti-Gebirge, gibt es sogar noch einen 87 Jahre alten Schäfer, ehemals der Bürgermeister des Ortes, der bereitwillig Auskunft gibt über seine Zeit als Widerstandskämpfer gegen die Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Das schwarze, mit Troddeln umsäumte Tuch, das er um den ausdrucksstarken Kopf geschlungen trägt, ist Zeichen seiner Trauer um die Toten.

Stolz und wild sind sie, die Männer im Westen der Insel, so sagt man. Fast jeder besitzt eine Waffe - nicht nur zum Jagen. Die durchlöcherten Verkehrsschilder zeugen von zahlreichen Schießübungen.

In jedem Dorf gibt es mindestens ein Kafenion, in dem sich die alten Männer zum griechischen Kaffee - es gibt angeblich 164 Arten der Zubereitung - und zum Plausch über Politik und Familien treffen. Gern lassen sie sich auf ein Gespräch mit Gästen ein, sofern man jemanden zum dolmetschen findet und die richtigen Fragen stellt. Reiseleiterin Roswitha, Ehefrau eines Athener Parlamentsabgeordneten, leidenschaftliche Kreterin und Verfechterin des antiken Matriarchats, weiß, wie es geht: "Sind Sie verheiratet? Wie viele Kinder haben Sie?" Schon sind die Barrieren überwunden. Ein wenig Zeit bleibt noch, bis die Männer in einer Stunde zum Ziegenmelken müssen. Inzwischen steigt der Wirt auf ein paar Kisten auf der Ladefläche eines Lasters und schneidet für die Besucher Weintrauben von den Reben ab, die üppig über der Terrasse hängen.

Überreste einer gut erhaltenen Weinpresse aus minoischer Zeit zeugen in Vathipero bei Heraklion von der jahrtausendealten Kultur des Weinanbaus. Der Wein für den Eigenbedarf wird heute allerdings eher mit den primitiven Mitteln der jüngeren Vergangenheit gepresst, nämlich mit den Füßen auf einem Pickup. Auf dem Auto wird eine Plastikplane ausgebreitet, darauf zertrampeln die jungen Burschen die Trauben. Der Saft fließt in eine Wanne. Aus den Schalen wird anschließend der Raki gewonnen, der in jedem Dorf mit Brennrecht einen eigenen Geschmack bekommt.

Rund 80 Prozent der Kreter sind, zumindest im Nebenerwerb, auch landwirtschaftlich tätig. Es gibt 30 Millionen Olivenbäume. Auf den reichlichen Verbrauch des Öls in der kretischen Küche wird das hohe Alter der Einheimischen zurückgeführt. Das hiesige Olivenöl gilt als eines der besten Europas.

Eine andere Spezialität der Insel ist der kräftige Thymianhonig, der eine noch ältere Geschichte als der Wein hat. Schließlich wurde Göttervater Zeus der Legende nach von einer Ziege und einer Biene aufgezogen. Die Höhle von Psychro, in der er angeblich geboren wurde, gehört zu den touristischen Attraktionen auf der Lassithi-Ebene. Wo genau im Idi-Gebirge sein "Grab" liegen soll, weiß dagegen kaum jemand. Doch wer Fantasie hat, der kann im fernen Berg Juchtas den Kopf des Gottes mit Haar und Bart erkennen. So bleibt er für die Nachwelt dann doch unsterblich.