Auf Kreta wetteifern Réthimnon und Chaniá darum, die schönste Stadt der Insel zu sein.

Das Mittelmeer ist wütend. Im Zehn-Sekunden-Takt schleudert es gewaltige Wellen an die Hafenmauer. Dort abrupt gebrochen, steigen sie einige Meter hoch, besonders dekorativ am schlanken Leuchtturm, der immer wieder von Gischt gepeitscht wird. Doch auch innerhalb des Hafenbeckens ist Bewegung. Der steife Nordost drückt das Wasser durch die enge Einfahrt. Nur noch einige Handbreit steht es unter der Promenade, regelmäßig schwappen Brecher über Bänke und Laternen.

Wo sonst das Leben pulsiert, wo sich die Gäste in den Korbstühlen der Restaurants und Cafes vom Flanieren erholen, wo regelmäßig die weißen Pferdedroschken entlang klappern, überall dort steht heute Wasser. Garniert mit rotbraunen Algenbüscheln, zwischen denen auch mal ein winziger Oktopus zappelt.

Ein Wintermorgen in Chania. Außer dem wilden Wasser ist noch nicht viel los - das wird sich ändern im Lauf des Tages. Denn schließlich sind wir in der schönsten Stadt Kretas. Den optisch und räumlich bedeutendsten Beitrag dazu liefert der Bilderbuchhafen aus venezianischer Zeit; einst bot er Platz für 40 Galeeren der "Serenissima". Ein halbrundes Promenadendeck, gerahmt von einer Bordüre zwei- und dreigeschossiger pastellfarbener Häuser im Baustil Venedigs. Deren unterste Etagen sind fast lückenlos belegt von gastronomischen Etablissements.

Am Ende dieses Pools erhebt sich mit der Janitscharen-Moschee das älteste türkische Bauwerk Chanias aus dem Jahre 1645. Dahinter wiederum der Fischerei- und Yachthafen mit zehn venezianischen Arsenalen. Dort haben Fischer und Bootsbauer ihre Arbeitsplätze. Und ihre Kneipen, in die der kretische Schriftsteller Nikos Kazantzakis einst auch einen gewissen Alexis Sorbas "schickte", damit der dort ordentlich einen draufmachen konnte. Von dieser malerischen, vielleicht schönsten Stadtkulisse ganz Griechenlands gilt es nun einzutauchen ins Gewirr der engen mittelalterlichen Gassen.

Eben noch flanieren wir durch die wunderschön renovierte venezianische Galerie der Theotokopoulou-Straße, zwei Ecken weiter läßt die in schmalen Gassen versteckte Ruine des Renieri-Palastes aus dem 15. Jahrhundert nur mit viel Phantasie noch etwas ahnen vom einstigen adligen Glanz. Halb Verfallenes neben tadellos Renoviertem, gespenstische Mauergerippe neben farbenfrohen Fassaden, wurmstichige Balken neben eleganten eisernen Balkonen - das erlebt man hier auf Schritt und Tritt. Völlig normal: abends zu essen in einer urigen Taverne mit Blick auf den Mond, der durch das Fensterauge einer Ruine schaut.

Was aus einer Herrenhaus-Ruine mit viel Engagement und noch mehr Geld wieder werden kann, entdecken wir in der Casa Delfino. Von seiner Großmutter aus dem venezianischen Adelsgeschlecht der Delfino erbte Manthos Markantonakis ein im 17. Jahrhundert errichtetes Patrizierhaus. Nach über 300 Jahren war es zu einer Bruchbude verfallen. Mit der Investition von knapp zwei Millionen Euro erhielt der Kreter nicht nur die originalen Strukturen wie Freitreppe, Giebel, Rundbögen, Balkone, sondern schuf auch eine überaus atmosphärische Hotel-Oase. Stolz präsentiert Manthos den von Bäumen, Sträuchern und Pflanzen beschatteten und zum Teil mit Mosaiken ausgelegten Patio; er zeigt uns die neoklassische Einrichtung seiner Zimmer und Suiten. Von April bis Oktober ist er fast immer ausgebucht.

Ortswechsel. Eineinhalb Busstunden weiter östlich wetteifert Rethimnon mit Chania um die Ehre, die Schönste im Land zu sein. Und schneidet dabei gar nicht so schlecht ab. Die Altstadt mit Minaretten und Moscheen, mit engen Gassen und weiten Plätzen, mit typisch venezianischen und türkischen Häusern: Sie ist insgesamt besser und einheitlicher erhalten. Einheimisches und touristisches Leben gehen hier die gleichen Pfade. Der venezianische Hafen ist wesentlich kleiner und dadurch intimer. Allerdings auch weniger gut konserviert. Gigantisches Plus von Rethimnon: die Fortezza. Eine venezianische Burg aus dem 16. Jahrhundert, aufgetürmt nach den damals modernsten Regeln der Festungsbaukunst. Eine riesige Anlage, auf der Moschee und Kapelle einträchtig nebeneinander stehen.

Überhaupt: Das Leid eines jahrhundertelang geknechteten Volkes scheint vergessen und der Erkenntnis gewichen, daß auch die lange vernachlässigten Bauten der einstigen Unterdrücker als kulturelles Erbe zu betrachten und folglich zu erhalten sind.

Solch historisch interessante Spuren bietet Rethimnon in Hülle und Fülle. Auffällig etwa die typisch türkischen hölzernen Erker, besonders gut bestückt damit die Asambatzogalou-Gasse. Über die ganze Altstadt verteilt venezianische Portale, die prächtigsten mit reichem Skulpturschmuck. In der Pascha Nerazza-Moschee steckt heute eine Musikschule nebst Konzertsaal, die restaurierte venezianische Loggia, das frühere Klubhaus der Adligen, beherbergt einen Museumsladen.

Auch in Rethimnon finden wir ein Beispiel für die Metamorphose vom häßlichen Entlein zum stolzen Hotel-Schwan. Manolis Giannakopoulos und Nadja Psaraki besaßen eine Jazz-Bar in Athen, als sie sich vor 15 Jahren Hals über Kopf verliebten in das, was noch übrig war von einem 300 Jahre alten venezianischen Stadthaus. Nach einer langwierigen Restaurierung eröffneten sie 1993 ihr Etablissement in der Altstadt von Rethimnon, das Hotel "Mythos". Auch das ist eine gute Basisstation für Stadturlaub auf Kreta im Herbst oder Winter.