Gibt das Universum die Rätsel der Materie und seines Ursprungs preis? Erste Antworten erwarten die Forscher in einem Jahr.

Hamburg. Um 10.28 Uhr brandete wie bei einem gelungenen Raketenstart Beifall im voll besetzten Kontrollzentrum des Cern, der Europäischen Organisation für Kernforschung bei Genf auf. Tausende von Wissenschaftlern in Deutschland, den USA und Asien fielen ein, mancherorts knallten die Sektkorken - 25 Jahre hatten die Physiker, Mathematiker und Ingenieure diesem Moment entgegengefiebert. Zwei Blitze auf einem Monitor zeigten: Der Teststrahl war erfolgreich durch den ganzen Tunnel im schweizerisch-französischen Grenzgebiet gesaust.

"Es ist ein historischer Moment", kommentierte Rolf-Dieter Heuer, Direktor des Deutschen Elektronen-Synchrotrons (Desy), den Bilderbuchstart der größten Forschungsmaschine, die Menschen je gebaut haben. Der künftige Generaldirektor des Cern verfolgte den Testlauf live im Desy in Hamburg-Bahrenfeld, wo mit dem Beschleuniger Hera Grundlegendes für den Bau und Betrieb dieser Supermaschine erforscht wurde.

Als Projektleiter Lyn Evans um 9.30 Uhr den Startschuss für den ersten Testlauf gab, hörte das bis dahin hektische Treiben im Kontrollzentrum schlagartig auf. Die Spannung wuchs, alle schauten gebannt auf die Monitore, die das Innere des fast 27 Kilometer langen Ringbeschleunigers überwachen. Würde der Strahl von den gewaltigen, supraleitenden Magneten auf Kurs gehalten werden? Exakt um 9.33 Uhr blitzte es zum ersten Mal auf dem Kontrollmonitor auf. Der erste Schritt war geschafft, doch die Anspannung wich noch nicht. Behutsam schickten die Forscher den Strahl von Kontrollpunkt zu Kontrollpunkt, immer wieder justierten sie die Magnete nach, damit der Strahl optimal durch den in 100 Meter Tiefe verlaufenden Ring rasen konnte. "Man muss testen, ob die Einzelteile, aus denen der Ring besteht, richtig zusammenarbeiten", erläuterte Heuer und ergänzte: "Dafür reicht es aus, dass der Strahl jetzt nur aus einem Protonenpaket besteht, und die Energie, mit der die Protonen beschleunigt werden, um den Faktor 14 geringer ist als im Normalbetrieb." Dann allerdings wird so viel Energie im Large Hadron Collider (LHC) stecken, dass damit 500 Kilogramm Kupfer verflüssigt werden könnten.

Nur langsam werden die Physiker in den kommenden Monaten die Energie erhöhen, immer wieder die Sicherheitssysteme testen. Nicht weil sie kleine schwarze Löcher fürchten, die in den vergangenen Tagen für viel Aufmerksamkeit sorgten, sondern weil sie den Strahl sicher kontrollieren wollen. Wenn dieser im Betrieb unkontrolliert von der Laufbahn ausbricht, könnte er schwere Schäden an der vier Milliarden Euro teuren Maschine auslösen.

Doch diese einzigartige Maschine, so hoffen die Forscher, soll ihnen den Weg zum "Gottesteilchen" weisen. Denn das gegenwärtige Weltbild der Physiker hat (noch) eine gravierende Lücke: Nach dem Standardmodell, dem physikalischen Rezept für das Universum, haben die Teilchen keine Masse! Doch ohne Masse wären alle Teilchen schnell wie das Licht, sie würden sich nicht zusammenballen. Es gäbe also keine Atome, keine Sterne, keine Menschen, keine Tische, Bäume oder Planetensysteme. Doch all das ist vorhanden. "Wir suchen also nach dem Baustein, der Elementarteilchen ihre Masse gibt", erläutert Heuer. "Wir wissen auch alles über das Teilchen, seit der britische Physiker Peter Higgs und seine belgischen Kollegen den sogenannten Higgs-Mechanismus entwickelt haben. Ein mathematisches Modell, das theoretisch erklärt, wie die Teilchen zu ihrer Masse kommen. Doch leider wissen wir bis heute nicht, ob es das Teilchen gibt. Deshalb sind wir auf die ersten Ergebnisse, die wohl in ein bis zwei Jahren vorliegen werden, auch so gespannt."

Den Higgs-Mechanismus erklären Forscher gern so: Das Universum ist erfüllt von einer Art Sirup, der unterschiedlich stark an den Elementarteilchen klebt und sie somit bremst. Das ist das Higgs-Feld. Der Sirup kann der Theorie zufolge auch selbst Klumpen bilden. Nach diesen Klumpen, den Higgs-Teilchen, im kosmischen Sirup fahnden die Physiker nun. Würden sie entdeckt, wäre der Higgs-Mechanismus bewiesen, und das Standardmodell hätte keine Lücken mehr.

Doch die Suche nach diesem Teilchen ist nur ein Ziel, das die Forscher mit dieser komplizierten Maschine verfolgen, an der vier haushohe, mit modernster Technik gespickte Detektoren die Zusammenstöße der Atomkerne protokollieren werden. "Mit dem Higgs-Teilchen hätten wir zwar das Standard-Modell vervollständigt, aber es erklärt leider nur fünf Prozent des Universums", sagt Heuer. "Der Rest ist Dunkle Energie und Dunkle Materie, die wir nicht genauer kennen." Der Physiker hofft, dass der LHC Licht in das Dunkel bringen wird.

Und noch ein Rätsel wollen die Forscher lösen: Warum das Universum mehr Materie als Antimaterie enthält. "Beim Urknall sollte eigentlich gleich viel Materie wie Antimaterie entstanden sein", sagt Desy-Forscher Joachim Mnich. "Da sich Teilchen und Antiteilchen beim Aufeinandertreffen vernichten, hätte aus dem Urknall eigentlich eine Welt ganz ohne Materie hervorgehen müssen. Dies ist offensichtlich nicht der Fall, wie wir sehen. Die Materie ist in der Überzahl. Was steckt dahinter?" Wenn ab kommendem Frühjahr die lichtschnellen Atomkerne im längsten Kühlschrank der Welt, in dem minus 271 Grad Celsius herrschen, kontrolliert zusammenstoßen, werden sie den Physikern einen unvorstellbaren Teilchenregen bescheren - und erste Antworten auf die Frage bringen, ob das Universum die Rätsel des Urknalls, der Materie, seines Ursprungs preisgibt.


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