Radioaktive Spuren in zwei Flugzeugen nähren den Verdacht: Das Polonium wurde aus Moskau nach London gebracht. Und was das Opfer an jenem Tage tat, als das Gift in seinen Körper gelangte, ist fast rekonstruiert.

London. Es ist Donnerstag, der 25. Oktober, ein stürmischer Herbstabend. Planmäßig um 20.55 Uhr Ortszeit hebt eine Boeing 767 der British Airways (Flugnummer BA 875) vom Moskauer Flughafen Domodedovo ab. Was niemand weiß, Scotland Yard aber inzwischen vermutet: An Bord befindet sich ein Mann, der einen Behälter mit dem radioaktiven Stoff Polonium 210 im Handgepäck versteckt hat. Bereits die fürs bloße Auge unsichtbare Menge von 0,1 Mikrogramm davon ist tödlich, wenn sie in den Körper gelangt. Gut drei Stunden später setzt die Maschine in London-Heathrow auf . . .

Damit beginnt womöglich eine der mysteriösesten Spionage-Affären seit Ende des Kalten Krieges. Einen vorläufigen und traurigen Höhepunkt erreicht sie 29 Tage später: Im Londoner University College Hospital stirbt um 21.21 Uhr der ehemalige KGB-Agent und Kreml-Kritiker Alexander Litwinenko (43). Todesursache: Verstrahlung durch Polonium 210.

Was aber geschah zwischen dem 25. Oktober und dem 1. November, jenem Tag, an dem aller Wahrscheinlichkeit nach Litwinenko den tödlichen Stoff in den Körper bekam?

Die Funde radioaktiver Spuren in zwei Flugzeugen und an mittlerweile zwölf Orten in London lenken das Augenmerk der Ermittler immer stärker auf ein Treffen von Litwinenko mit dem ehemaligen KGB-Agenten Andrej Lugowoi und zwei weiteren Männern. Ort: das Londoner Millennium-Hotel. Datum: 1. November. Lugowoi flog zwei Tage später mit British Airways zurück nach Moskau - in einer der beiden Maschinen, in denen jetzt radioaktive Spuren entdeckt wurden. Eine Verwicklung in den Fall weist er jedoch weit von sich: "Ich bekomme das Gefühl, dass mir jemand den schwarzen Peter in die Schuhe schieben will", beteuerte er bei einer Pressekonferenz in Moskau. Das "stärkste Gift", das er Litwinenko angeboten habe, sei Alkohol gewesen. Im Übrigen, so fügte er hinzu, ließen sich wohl bei jedem, der mit Litwinenko zusammengetroffen sei, radioaktive Spuren finden.

Der britische Innenminister John Reid erklärte gestern im Parlament, dass es sich bei den zwölf Fundstellen in London um Orte handele, an denen sich Litwinenko seit Anfang November persönlich aufgehalten habe. Flugreisen habe der Exil-Russe seither nicht unternommen. Mithin kann er es nicht gewesen sein, der die Spuren in den Flugzeugen hinterließ. Möglich ist, dass Menschen, die mit ihm Kontakt hatten, später in den betreffenden Maschinen reisten. Möglich ist aber auch, dass Polonium 210 in den Flugzeugen - oder zumindest in einem der beiden - transportiert wurde.

Für Scotland Yard hat höchste Priorität, ein genaues Bewegungsprofil Litwinenkos am 1. November zu erstellen. Die Ermittler hoffen, anhand von Aufnahmen aus Überwachungskameras nachzuvollziehen, wann und wo er vergiftet wurde. Erst dann kann verschiedenen Theorien, wer hinter dem mutmaßlichen Mordanschlag auf den Dissidenten steckt, gezielt nachgegangen werden. Noch sind nicht alle Schritte Litwinenkos an jenem verhängnisvollen Tag geklärt.

Fest steht: Gegen Mittag des 1. November trifft Litwinenko in der Innenstadt ein, kauft eine Zeitung in Piccadilly. Um 15 Uhr erscheint er zum Lunch mit dem italienischen Sicherheitsexperten Mario Scaramella in der Sushi-Bar Itsu, um ihn über die Ermordung der regimekritischen Journalistin Anna Politkowskaja in Moskau zu befragen. Die Bar ist der erste Ort, an dem später Spuren des Poloniums entdeckt werden.

Von 16.30 bis 18 Uhr findet das Treffen Litwinenkos mit Lugowoi und den zwei anderen Geschäftspartnern im Millennium-Hotel statt. Danach besucht Litwinenko zwei Büros in der Grosvenor Street; eines ist der Sitz einer privaten Sicherheitsfirma. Gegen 19.30 Uhr kehrt er in sein Haus im Nordlondoner Stadtteil Muswell Hill zurück. Dort verschlechtert sich sein Zustand so sehr, dass er später am Abend ins Krankenhaus gebracht werden muss.

Noch ungeklärt ist, wo Litwinenko sich zwischen etwa 12 und 15 Uhr aufhielt, also vor seiner Begegnung mit Scaramella in der Sushi-Bar. Besuchte er das Büro des russischen Milliardärs Boris Beresowski in der Down Street Nummer sieben, in dem er fast täglich ein- und ausging? Wurde er womöglich dort vergiftet? Experten zufolge dauert es zwischen zwei bis drei Stunden, bis der menschliche Körper die radioaktive Strahlung abgibt. Scaramella fügte den Rätseln gestern eine weitere interessante Komponente hinzu - nämlich mit der Behauptung, dass Litwinenko ihm bei dem Treffen gestanden habe, während seiner Geheimdienstzeit radioaktive Substanzen in die Schweiz geschmuggelt zu haben. "Mir geht es gut", sagte der Italiener, der in London unter Polizeischutz steht. "Ich bin nicht verseucht und habe auch keinen anderen verseucht."

Bei den Untersuchungen wird nach Angaben von Innenminister Reid in verschiedene Richtungen ermittelt und derzeit nichts ausgeschlossen.

Inzwischen ist eine ganze Reihe von Verschwörungstheorien im Umlauf: Während einige dem russischen Präsidenten Putin die Schuld in die Schuhe schieben, glauben andere, dass Regimegegner wie Beresowski Litwinenko wie einen "Bauern im Schachspiel geopfert" hätten, um die Beziehungen Russlands mit dem Westen zu vergiften. Die ehrwürdige "Times" spekuliert, Litwinenko habe Hinweise über die systematische Verfolgung von Mitarbeitern des russischen Ölkonzerns Yukos durch die Regierung gesammelt, und der "Independent" berichtet, der Ex-Agent habe den Namen von Anna Politkowskajas Mörder gekannt und - wie auch Scaramella - auf dessen schwarzer Liste gestanden.

Nun ist es an Scotland Yard, die Fäden dieser komplexen Affäre zu entwirren und den oder die Schuldigen ausfindig zu machen. Die Briten nehmen den Job äußerst ernst: Die Litwinenko-Affäre hat die wohl gigantischste Fahndungsaktion der jüngeren britischen Kriminalgeschichte ausgelöst. Das geheime Kabinettskomitee "Cobra", das sich aus Ministern und Top-Sicherheitsleuten zusammensetzt, hat sich bereits zweimal zur Krisensitzung eingefunden, um die nationale Lage zu besprechen. Gestern nahm auch die Staatsanwaltschaft offiziell die Ermittlungen auf, nachdem Gerichtsmediziner Andrew Reid bekannt gegeben hatte, dass die Polonium-Werte in Litwinenkos Körper zu hoch waren, um einer natürlichen Quelle zu entstammen.