Abschaffung der Studiengebühren, Öko-Landwirtschaft und Energiewende: Weils künftige Regierung hat große Pläne. Reicht das Geld?

Hannover. Nach zehn Jahren kommt es in Niedersachsen zu einem echten Politikwechsel. Die Parteiprogramme von SPD und Grünen unterscheiden sich deutlich von der Positionen, die die schwarz-gelbe Koalitionsregierung unter den CDU-Ministerpräsidenten Christian Wulff und David McAllister durchgesetzt hat. Nach der spannendsten Wahlnacht in der Geschichte des Landes steht dem designierten neuen Regierungschef Stephan Weil bei den Koalitionsverhandlungen eine erste große Bewährungsprobe bevor. Die Programmatik der beiden Parteien hat große Schnittmengen in der Bildungs- und Innenpolitik, aber es gibt auch sehr unterschiedliche Positionierungen etwa in der Verkehrspolitik, der Landwirtschaftspolitik und bei der Umsetzung der Energiewende.

Vorteil für Weil: Als Oberbürgermeister von Hannover regiert er seit 2006 bereits mit rot-grüner Mehrheit und weiß deshalb, wo für seinen Partner die Schmerzgrenzen verlaufen. Hinzu kommt: Nach 19 Jahren Opposition wollen die Grünen unbedingt zurück an die Macht. Wenn Weil so cool verhandelt, wie er in der Wahlnacht die lange Zeit drohende Wahlniederlage wegsteckte, ehe er dann zum Last-Minute-Ministerpräsidenten aufstieg, sollte es keine unüberwindbaren Hindernisse geben. Umlernen müssen die Schulen: Beide Partner wollen Gesamtschulgründungen erleichtern mit dem erklärten Ziel, dass neue Schulen auch in ländlichen Regionen entstehen. An den Gesamtschulen wird zudem absehbar das Abitur wieder wie früher erst nach neun Jahren abgelegt. Die Studiengebühren von 500 Euro je Semester sollen ersatzlos gestrichen werden, die Zeitschiene dafür hängt aber auch an der Frage der Finanzierung. Schließlich hat sich Weil festgelegt, den Hochschulen die wegfallenden Studiengebühren komplett aus dem Landeshaushalt zu finanzieren.

Der am Montag angekündigte Kassensturz nach zehn Jahren Schwarz-Gelb ist ja nicht nur Ritual. Tatsächlich haben Regierungen gleich welcher Couleur immer Wege gefunden, Zahlen zu schönen und Schattenhaushalte zu etablieren. "Ich fürchte, dass es schwarze Löcher der Vorgängerregierung geben wird", sagte dazu der Grünen-Spitzenkandidat Stefan Wenzel.

Die Finanzpolitik wird aber auch zur Bewährungsprobe für die Solidität der neuen Mehrheit. Die Umsetzung von teuren Wahlversprechen hängt an Steuermehreinnahmen, die nur bei einem Regierungswechsel zu Rot-Grün auch auf Bundesebene fließen werden. Und beide künftigen Partner haben im Wahlkampf versichert, sie wollten eine solide Finanzpolitik. Das engt, wenn es ernst gemeint ist, die Spielräume für Reformen ein und macht die Koalitionsverhandlungen schwieriger.

In der Innen- und Justizpolitik ist mit tief greifenden Differenzen nicht zu rechnen, die Asylpolitik wird deutlich liberaler werden. Klar ist, dass die Grünen derzeit wegen ihres Rekordergebnisses von 13,7 Prozent vor Kraft nicht laufen können. Zu spüren bekommen werden das die Bauern. Deren Verbandspräsident Werner Hilse gratulierte artig den Wahlsiegern, aber mahnte auch gleich eine "redliche und sachliche Auseinandersetzung über agrarpolitische Themen" an. Die Grünen wollen die industrielle Massentierhaltung deutlich korrigieren, ihre Spitzenkandidatin Anja Piel hat klargemacht, dass die SPD sich an dieser Stelle deutlich bewegen muss: "Das ist eine große Baustelle, und wir haben bei der Massentierhaltung völlig andere Vorstellungen von ökologischer Landwirtschaft als unser Partner."

Eine völlig andere Frontstellung gibt es bei der Frage eines möglichen Atomendlagers Gorleben für hochradioaktiven Müll. Dort hatte sich am Montagabend Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) zu einem Besuch angesagt. Aber auch er muss jetzt erst einmal abwarten, wie die Auseinandersetzung zwischen SPD und Grünen in Hannover einerseits und den beiden Bundesparteien andererseits ausgeht. Letztere befürworten wie Altmaier eine neue Endlagersuche unter Einschluss von Gorleben, Weil und Wenzel haben dies strikt abgelehnt. Daran kann der angestrebte bundesweite Konsens scheitern.

In der Verkehrspolitik dagegen gibt es den klassischen Konflikt zwischen der Wirtschaftsförderungspartei SPD, die auch neue Autobahnen fordert, und den Grünen, denen jeder neue Meter Asphalt missfällt. Denkbar, dass man sich angesichts der knappen Finanzmittel darauf einigt, für den zeitlich noch gar nicht absehbaren Bau der Küstenautobahn A 20 und hier vor allem für die teure Elbquerung zumindest keine weiteren bürokratischen Hürden aufzubauen. Im Gegenzug könnte die SPD zustimmen, den Weiterbau der Autobahn 39 zwischen Lüneburg und Wolfsburg auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben.

Dass durch den raschen Ausbau der Windenergie an Land wie in der Nordsee die Wirtschaft angekurbelt werden soll - darin waren sich sogar alle Fraktionen im Landtag einig. Und die ganz großen Probleme wie der Netzausbau für den Offshore-Bereich sind zudem Baustellen für die Bundesregierung. Aber im Land gehen die Meinungen von SPD und Grünen darüber deutlich auseinander, wie viele Stromtrassen man braucht und wie kleinteilig die künftige Energieversorgung sein soll.

Machtwechsel haben ihre Rituale: Am Montagvormittag holten sich Sieger und Verlierer ihre Blumen in den Berliner Parteizentralen ab, am Nachmittag tagten die Landesvorstände mit sehr unterschiedlich ausgeprägtem Vergnügen. An diesem Dienstag treffen sich die neuen Fraktionen, und dann werden SPD und Grüne einen Zeitplan für die Verhandlungen vorlegen.

Und obwohl alle Beteiligten wie immer betonen, es werde erst um Sachfragen gehen und dann um Personen: Es wird bereits kräftig spekuliert. Das Problem dabei ist, dass erst wenn klar ist, welches Ressort die Grünen außer dem Umweltministerium für sich reklamieren, das Namenskarussell richtig in Fahrt kommt. Mit dabei ist dann auch die 46-jährige Hamburger Juristin Anke Pörksen, von Weil als Kandidaten fürs Justizressort benannt.

Bei den Grünen hat Wenzel bereits einen Ministerposten für sich reklamiert, seine Co-Spitzenkandidatin Piel angekündigt, sie strebe ein Amt in der Fraktion an. Als sicher gilt, dass SPD-Männer wie Boris Pistorius (Innen) und Olaf Lies (Wirtschaft) dem rot-grünen Kabinett angehören werden. Erwartet wird auch, dass die neue Landesregierung aus der Kommunalpolitik Fachleute für die Staatssekretärsebene rekrutiert. In zehn Jahren mit einer bürgerlichen Mehrheit sind leitende Positionen in der Ministerialbürokratie von Parteigängern besetzt, gegen die eine neue Regierung ihre neuen Inhalte im Alltag durchsetzen muss.