HELMUT SCHMIDT. Jetzt müssen wir den Osten über den Zustand vor der Flut hinaus nach vorn bringen, fordert der Altkanzler.

Hamburg. "Ich halte die Überschwemmungen an der Elbe und ihren Nebenflüssen für eine nationale Katastrophe, deren Folgen tiefer greifen werden als die der Überschwemmungen in Hamburg im Jahr 1962 und die an der Oder im Juli 1997", sagte Bundeskanzler a. D. Helmut Schmidt gestern im Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt. "Es ist deshalb eine Katastrophe für die ganze Nation, weil es ausgerechnet die Menschen in den neuen Bundesländern trifft. Sie hatten viel geleistet und zu Recht geglaubt: Endlich haben wir es geschafft! Jetzt hat die Flutkatastrophe viele von ihnen um Hab und Gut gebracht. Wäre das Unglück im Westen geschehen, es wäre zwar schmerzlich gewesen, aber es hätte Gebiete getroffen, die weit mehr Reserven haben." Der Schirmherr der von den Hamburger Medien gegründeten Aktion "Hamburg hilft den Flutopfern" weist darauf hin, dass die von dem Unglück nicht betroffenen Deutschen den geschädigten Menschen im Osten nur durch Spenden helfen können: "Wir können nicht nach Dömitz fahren und die Straßen verstopfen. Die meisten von uns leben von den Elborten so weit weg, dass sie nur mit Geld Unterstützung leisten können. Daher sollten wir es auch so machen. Heute ist die Nation gefordert!" Helmut Schmidt glaubt nicht, dass es mit der Reparatur der Schäden getan sein wird: "Natürlich ist ein großes Hilfsprogramm notwendig", sagte er. "Es wird aber keineswegs ausreichen, die Zustände vor der Flut wieder herzustellen. Was wir brauchen, ist ein gewaltiger qualitativer Sprung, der den Osten über den Zustand vor der Flut hinaus nach vorn bringt. Es wird nach dem Wahlkampf von der Regierung abhängen, dies zu erkennen, zu verkünden und zu einer gemeinsamen nationalen Anstrengung zu machen." Der Bundeskanzler a. D. sagte mit Nachdruck: "Die Menschen im Osten brauchen nicht nur materielle Hilfe, sondern auch Seelsorge - nicht nur vom Pfarrer, sondern auch von den Politikern, von Regierung und Opposition." Auf Grund seiner Erfahrungen als Regierungschef in schwierigen Zeiten hätte Helmut Schmidt es angesichts einer nationalen Katastrophe "gern gesehen", dass sich Gerhard Schröder und Edmund Stoiber "zusammentelefoniert und sich gefragt hätten, ob der Wahlkampf nicht für 14 Tage ausgesetzt werden müsste". Schmidt erinnerte an die Entführung des Wirtschaftsführers Hanns Martin Schleyer, die Ermordung seiner Leibwächter und das Kidnapping der Passagiere des Lufthansa-Jets "Landshut", um die Drahtzieher freizupressen: "Damals war es selbstverständlich für die Regierung, die Opposition einzuladen, zu informieren und mit ihr die Lage und die Lösungsvorschläge zu besprechen. Und für die Opposition war es selbstverständlich, nicht mit eigenen, womöglich konträren Vorschlägen an die Öffentlichkeit zu gehen. Heute ist zwar Wahlkampf; aber ich hätte es mir doch gewünscht, dass es so ähnlich hätte ablaufen können." Dann kommt ein Satz für die Geschichtsbücher: "Wenigstens Spitzenpolitiker müssten wissen, dass es Ereignisse gibt, wo nicht der Politiker gefragt ist, sondern der Staatsmann." Helmut Schmidt weist darauf hin, dass es die Verantwortlichen bei der Hamburger Flutkatastrophe und bei den dramatischen Ereignissen an der Oder leichter gehabt hätten: "Heute sind an dem Kampf gegen die Flut viele Verwaltungen und Gremien beteiligt. In Hamburg dagegen hatten nur ein Zivilist und ein Militär das Sagen: der Innensenator Schmidt und der Admiral Rogge. An der Oder war es ähnlich: Der Umweltminister Platzeck und der General von Kirchbach gaben die Befehle." Interessanterweise wird jetzt von Fachleuten diskutiert, ob es nicht angebracht gewesen wäre, schon zu Beginn der Überflutungen am Oberlauf der Elbe einen nationalen Katastrophenstab zu bilden. Schmidt wiederum weist darauf hin, dass es nach den ersten Überschwemmungen in Prag glücklicherweise "viel Vorwarnzeit" gegeben hat und dadurch viele Menschenverluste vermieden werden konnten. "In Hamburg hat es damals keine Vorwarnung gegeben", sagte er. "Daher mussten 340 Menschen sterben." Dann fügte er einen gallenbitteren Nachsatz an: "In Hamburg habe ich am ersten Tag mit 10 000 Toten gerechnet. Aber ich habe es keinem gesagt." Ich hätte es gern gesehen, wenn sich Schröder und Stoiber gefragt hätten, ob der Wahlkampf nicht für 14 Tage ausgesetzt werden müsste.