Die Findung des neuen Bundespräsidenten gestaltete sich komplizierter als erwartet. Zeitweise stand die schwarz-gelbe Koalition vor dem Zerbrechen.

Berlin. Die deutsche Politik ist nicht reich an emotionalen Momenten, sondern gilt als eher nüchtern. Aber als Joachim Gauck am Sonntag abend im Kanzleramt neben Angela Merkel Platz nahm, saß beiden sichtlich ein Kloß im Hals. Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler hatte schon kurz zuvor Tränen in den Augen gehabt, als er zum Abendessen der Parteivorsitzenden von CDU, CSU, FDP, SPD und Grünen gestoßen war. Denn der 72-jährige steht mit der zweiten – und diesmal parteiübergreifenden – Nominierung für das Bundespräsidentenamt vor dem Höhepunkt seines Lebens.

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Doch auch die CDU-Chefin war bewegt, allerdings weniger, weil sie die Persönlichkeit Gaucks so hoch schätzt. In Wirklichkeit hat Merkel gerade eine ihrer bittersten politischen Niederlagen der letzten Jahren erlitten. Das ließ sich schon an den strahlenden Gesichtern von SPD-Chef Sigmar Gabriel sowie der Grünen-Parteivorsitzenden Claudia Roth und Cem Özdemir in der gemeinsamen Pressekonferenz ablesen. „Die Überschrift könnte lauten: Ende gut, alles gut“, stichelte Gabriel zufrieden und erinnert wie Roth daran, dass nun endlich der „Fehler“ der Kanzlerin korrigiert werde, die bei der letzten Wahl eines Bundespräsidenten 2010 noch Niedersachsens Ministerpräsidenten Christian Wulff gegen Gauck durchgesetzt hatte.

Am Sonntag wurde klar, wie begrenzt der Spielraum der „mächtigsten Frau der Welt“ bei der Präsidenten-Suche in Wahrheit war. Denn obwohl die Union lieber den früheren Umweltminister Klaus Töpfer oder den früheren Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber, nominiert hätte, setzte die FDP ihre Präferenz durch. In einer Schaltkonferenz legte sich die liberale Führungsspitze ganz auf Gauck fest – wohl wissend, dass dies für den Koalitionspartner eine Zumutung sein würde. „Aber die FDP wollte auch einmal zu den Gewinnern gehören“, spottete man in der Opposition umgehend.

Genüsslich wird bei SPD und Grünen darauf verwiesen, dass sich die Union trotz ihrer derzeitigen Umfragestärke nicht einmal „gegen eine Drei-Prozent-Partei“ habe durchsetzen können. Tatsächlich hatte die Kanzlerin angesichts der harten Haltung der FDP plötzlich nur noch eine Wahl: Entweder sie gibt nach und erleidet mit der gemeinsamen Nominierung des 2010 noch abgelehnten Gaucks selbst einen Gesichtsverlust. Oder aber sie einigt sich mit der Opposition auf einen Kandidaten wie Töpfer - um den Preis, dass die schwarz-gelbe Koalition auf Bundesebene platzen und ihre Kanzlerschaft gefährdet ist.

So positiv sich Merkel am Sonntagabend öffentlich auch zu Gauck äußerte: Die Nominierung trifft die zuletzt so übermächtige wirkende Kanzlerin an zwei sehr empfindlichen Stellen. Zum einen galt gerade die verschwiegene Personalpolitik lange als Ausdruck ihrer politischen Macht und Expertise - spätestens seit sie noch als Oppositionsführerin gegen den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder und Frankreichs Präsidenten Jacques Chirac den Portugiesen Jose Manuel Barroso als neuen EU-Kommissionspräsidenten durchsetzte. Jetzt aber offenbarte die angeschlagene FDP, dass sie das Heft des Handelns nicht in der Hand hatte.

Zudem schmälert die Wahl des populären ostdeutschen Protestanten Gauck ein wenig den Glanz ihrer eigenen Vita und ihr politisches Alleinstellungsmerkmal. Denn der künftige höchste Mann im deutschen Staat wuchs wie Merkel nicht nur im Kommunismus auf, sondern war anders als sie damals sogar aktiv im Bürgerwiderstand gewesen.

„Es passt schon“, wiegelte CSU-Chef Horst Seehofer zwar nach der gemeinsamen Pressekonferenz ab. Viel wichtiger als solche Überlegungen sei doch, dass mit der parteiübergreifenden Nominierung ein Signal an die Bürger und das Ausland gesendet habe.

Aber die politische Debatte dürfte dennoch nicht beendet sein. Denn nach einer Entscheidung ist in der Politik immer vor der nächsten. Und bei denen könnte die FDP in der schwarz-gelben Koalition auf einen ruppigen Ton treffen. Ein CDU-Politiker, der angesichts der durchaus aufgeheizten Stimmung in der Union anonym bleiben wollte, vermutet sogar eine möglicherweise paradoxe Wirkung der Nominierung Gaucks: So hat die angeschlagene FDP zwar erfolgreich alle Kandidaten abgeschossen, die den Anschein künftiger schwarz-grüner oder schwarz-roter Koalitionen hätten erwecken können. Doch die de-facto-Hilfestellung für die Opposition könnte dazu führen, dass die Liberalen am Sonntag eine der letzten vehementen Verfechterinnen schwarz-gelber Bündnisses emotional verloren haben – die Kanzlerin und CDU-Chefin. Am Ende der Pressekonferenz jedenfalls kümmerte sich Merkel intensiv um Gauck und SPD-Chef Gabriel. FDP-Chef Philipp Rösler würdigte sie dagegen mit keinem Blick.