Kurt Beck war kein Fastenbrecher. Der SPD-Vorsitzende, der zurzeit wie viele in den Wochen vor Ostern Alkohol strikt meidet, schluckte nur alkoholfreies Hefeweizen. So gesehen gibt es keine rein menschliche Erklärung für das, was sich am vergangenen Montagabend in einem Nebenraum des Rathaus-Restaurants "Parlament" ereignete: dass Beck zu einer politischen Kehrtwendung ansetzte, für die sein Stellvertreter Peer Steinbrück und viele andere Genossen vor "Wortbruch" warnen lässt. Beck war ganz bei Sinnen.

Man saß gemütlich von 21 Uhr bis Mitternacht an weiß eingedeckten Tischen beisammen. Von einer "Strategiesitzung", wie es später hieß, konnte keine Rede sein. Außer Beck waren noch der SPD-Barde Günter Grass mit seiner Frau und der Hamburger SPD-Spitzenkandidat Naumann mit seiner Angetrauten anwesend, zudem der SPD-Sprecher Lars Kühn. Außer Beck und einem der sechs zum "Hintergrundgespräch" geladenen Journalisten trank man Wein, später wurde Grappa geordert. Als die schärferen Getränke bestellt wurden, hatte Beck in aller Ruhe längst die Kehrtwende in Hessen skizziert - nicht achtend der immer erstaunteren Gesichter der Presseleute. Man könne doch, so Beck gelassen, in Hessen die Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti zur Ministerpräsidentin wählen lassen unter Inkaufnahme der Stimmen der Linkspartei. Die Runde staunte. Hatte der SPD-Chef nicht noch vor Tagen eine derartige Kooperation brüsk für völlig ausgeschlossen gehalten? Er hatte.

Nach übereinstimmender Erinnerung der Teilnehmer sagte Beck zu diesem Gedanken: "Dann versuchen wir es einmal." Später setzte er hinzu: "Das machen wir dann so." Der SPD-Vorsitzende begründete seinen Schwenk in Richtung einer Operation zur Ablösung von Roland Koch im Einzelnen wie folgt: Die Große Koalition in Berlin müsse bis Herbst 2009 halten, denn wer aussteige, der verliere. Andererseits könne er beim besten Willen keine gemeinsamen Projekte der Koalition bis dahin erkennen. "Da geht nichts mehr", sagte er. Die CDU sei daran auch nicht interessiert, weil sie 2009 allein auf den Kanzlerin-Bonus setzen wolle und die altbekannte Formel "Freiheit oder Sozialismus". Mit einer derartigen politischen Friedhofsruhe könne die SPD sich jedoch nicht hinreichend profilieren. Mit Ypsilanti als Ministerpräsidentin in Hessen werde die Partei ganz sicher besser bundesweit wahrgenommen. Für sich selbst will Beck die Operation offenbar nutzen, um den Schwung der von ihm durchgesetzten Verlängerung des Arbeitslosengeldes mit in die nächsten Monate zu nehmen. Erkennbar wurde Becks Sorge, dass die SPD ohne zusätzliche Profilierung wenigstens in den Ländern den derzeitigen Schwung verlieren könnte. Einer dauerhaften Tolerierung durch die Linkspartei redete Beck allerdings nicht das Wort. Aber er sieht eine bessere Chance bei eventuell in Hessen fälligen Neuwahlen für die SPD, wenn Ypsilanti als amtierende Ministerpräsidentin antreten könnte.

Dass Naumann sich gegen diese "strategischen" Gedanken seines Parteivorsitzenden gewehrt hätte, erinnert kein Gesprächsteilnehmer.


Hans-Peter Schütz ist ehemaliger Stern-Autor und schreibt heute regelmäßig bei stern.de