HAMBURG. Jessica, Kevin, Nadine, Lea-Sophie - und jetzt die grausamen Tragödien in Darry und Plauen. Angesichts der Vielzahl von toten Kindern, die von ihren Eltern vernachlässigt, misshandelt oder sogar getötet werden, hat der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Kindernothilfe (Berlin), Georg Ehrmann, einen grundlegenden Umbau des deutschen Kinder- und Jugendhilfesystems gefordert. Auch das vom Familienministerium eingerichtete Nationale Zentrum für Frühe Hilfen sei nur ein Feigenblatt. Ehrmann übte zugleich massive Kritik an der gesellschaftlichen Stellung von Kindern in Deutschland. Ein Grundproblem bestehe darin, dass Kinder in die Ecke geschoben und als Störenfriede wahrgenommen werden, sagte er gestern.

ABENDBLATT: Eltern, die ihre Kinder verhungern lassen oder misshandeln, haben auf den ersten Blick wenig zu tun mit den aktuellen Fällen in Darry oder Plauen, in denen die Mütter psychisch krank sind. Trotzdem klagen Sie das System der Kinder- und Jugendhilfe massiv an. Warum?

GEORG EHRMANN: Es handelt sich auch in diesen beiden Fällen um hilfsbedürftige Mütter. Unser Jugendhilfesystem war offensichtlich nicht in der Lage, die notwendige Unterstützung zu geben. Es wird nicht sofort reagiert, es wird kein engmaschiges Netz mit Hilfs- und Kontrollangeboten vorgehalten. Das ist eine fürchterliche Versuchs-und-Irrtums-Politik, die da praktiziert wird. Das ist eine systematische Strukturkrise.

ABENDBLATT: Brauchen wir neue Gesetze, um solche Tragödien zu verhindern?

EHRMANN: Nein, die bestehenden Möglichkeiten müssen nur ausgeschöpft werden. Es ist eine Qualitätsfrage. Natürlich sind die beiden aktuellen Fälle Extremfälle. Die psychische Erkrankung der Mutter in Darry muss extrem gewesen sein. Aber trotzdem sind die Signale nicht erkannt worden.

ABENDBLATT: Wie kann das sein?

EHRMANN: Wir hatten ein solches Netz, aber es ist kaputtgespart worden. Das sind jetzt die Früchte, die wir ernten.

ABENDBLATT: Welche Rolle spielen die gesellschaftlichen Veränderungen?

EHRMANN: Es gibt eine wachsende Unterschicht mit erziehungsunfähigen Eltern. Die haben ganz neue Verhaltensweisen, die wir noch gar nicht kennen, wie beispielsweise Internetsucht. Das hat immer auch mit Verwahrlosung zu tun. Da gibt es noch keine Antworten drauf.

ABENDBLATT: Geht es um ein Unterschichtenproblem?

EHRMANN: Ja. Alle spektakulären Fälle die wir hatten, fanden in der Unterschicht statt. Wir haben diese Eltern abgehängt, und wir lassen sie allein.

ABENDBLATT: Was muss geschehen?

EHRMANN: Das Thema muss aus der sozialpolitischen Ecke raus. Es muss den gleichen Stellenwert haben wie der Klimaschutz. Es gibt keine offiziellen Zahlen. Nach unserer Statistik, die wir gemeinsam mit dem Bund der Kriminalbeamten erstellt haben, starben 2005 178 Kinder in Deutschland an den Folgen von Vernachlässigung, Missbrauch oder wurden von Familienangehörigen ermordet.