Abendblatt Sonntags: Wann kommen Betroffene zu Ihnen?

Prof. Detlev O. Nutzinger: Rund 70 unserer 400 Betten sind für Patienten mit Essstörungen reserviert. Sie sind immer belegt. Die vorwiegend weiblichen Patienten sind zwischen 17 und 30 Jahre alt und schwer essgestört. Oft sind sie so stark abgemagert, dass sie zunächst auf eine Überwachungsstation, zum Teil sogar auf die Intensivstation müssen. Diese Behandlung erfolgt dann in der internistischen Abteilung des benachbarten Krankenhauses Kaltenkirchen. Die Einschränkungen der Patientinnen durch die Essstörung sind sehr unterschiedlich, manche gehen trotz ihrer schweren Erkrankung ganz normal zur Arbeit, andere sind so geschwächt, dass sie zu Hause nur noch im Bett liegen konnten.

Der Großteil der Betroffenen ist weiblich - bei Magersucht wird vom Verhältnis eins zu zehn, bei Bulimie von eins zu zwanzig ausgegangen. Warum sind Mädchen gefährdeter?

Nutzinger: Es gibt Hinweise auf genetische Faktoren. Das Aufwachsen in einer Familie mit Essstörungen oder Übergewicht in der Kindheit sind Risikofaktoren, auch das frühe Auftreten der Monatsblutung. Kinder wachsen immer früher zu Jugendlichen heran. Diese Umbruchsituation bedeutet ohnehin Stress, geht einher mit neuen Anforderungen, die an die Jugendlichen gestellt werden. Je leistungsorientierter die Mädchen und ihr Umfeld sind, desto eher haben sie das Gefühl, den Ansprüchen nicht genügen zu können. Ein geringes Selbstbewusstsein tut sein Übriges. Die Nahrungsaufnahme ist manchmal das Einzige, von dem die Mädchen glauben, es selbst kontrollieren zu können.

Über dürre Hollywood-Stars und Mager-Models wird immer wieder diskutiert. Trotzdem hat sich in der öffentlichen Wahrnehmung von Schönheit nichts geändert, dünn sein bedeutet schön sein. Welche Rolle spielen Vorbilder?

Nutzinger: Gerade Mädchen in der Pubertät suchen Orientierung. Je geringer das Selbstvertrauen, desto eher wollen sie so sein wie ihre Idole, vermeintliche Schönheitsideale. Für Mädchen, die ohnehin gefährdet sind, können Model-Casting-Shows mit unverantwortlichen Gewichtsvorgaben (die oft im Magersuchtbereich liegen), wie die von Heidi Klum im vergangenen Jahr, eine Eintrittskarte zur Essstörung sein.

Was halten Sie von Internetforen zum Thema oder Bewegungen wie Pro Ana?

Nutzinger: In unserer Klinik hatten wir bislang relativ wenige Patientinnen, die in den Fängen von Pro Ana gelandet waren. Trotzdem halte ich diese Bewegung für sehr gefährlich. Betroffene halten sich für gesund, das Krankheitsbewusstsein fehlt vollkommen - ein Merkmal der Essstörung. Glücklicherweise haben einige Provider Ana-Seiten gesperrt. Auch Chatforen sind problematisch, solange sie nicht kontrolliert werden. Ana-Anhänger brüsten sich damit, in Askese zu leben, geben sich gegenseitig Tipps zum Hungern und Abnehmen und wie sie das am besten vor Eltern und Freunden verschleiern können. Andererseits nutzen Betroffene das Internet auch, um sich kundig zu machen. Daher versuchen Experten in therapeutisch betreuten Chatrooms, in geschütztem Raum, zu helfen, in einer Art virtueller, Gruppentherapie.

In anderen Ländern werden nun verstärkt Behörden aktiv. Was wünschen Sie sich von der deutschen Politik?

Nutzinger: Es müssen mehr Anlaufstellen für Betroffene geschaffen werden. Schulen sollten das Thema stärker in den Fokus rücken und, über Aufklärung hinaus, niedrigschwellige Angebote bereitstellen, etwa in der schulmedizinischen Betreuung. Der Bedarf ist groß! Wir dürfen nicht vergessen: Essstörungen sind sehr schwere Erkrankungen mit einer hohen Sterblichkeitsrate. An Anorexie sterben zehn Prozent der schwer Betroffenen - das ist die zweithöchste Sterblichkeitsrate bei den psychischen Erkrankungen, eine katastrophale Zahl.