Hamburg. Mit Staunen beobachten viele Menschen in Deutschland, mit welcher Selbstverständlichkeit Spitzenpolitiker von Union und SPD die Macht für sich reklamieren. Allen voran Bundeskanzler Gerhard Schröder und die CDU-Vorsitzende Angela Merkel. Jürgen Leinemann, Autor des Buchs "Höhenrausch - die wirklichkeitsleere Welt der Politiker", nennt den derzeitigen Schlagabtausch "gespenstisch".

"Was hier abläuft, ist die Realität zum Buch", sagte Leinemann dem Hamburger Abendblatt. Es sei ein gutes Beispiel dafür, wie sich der politische Betrieb verselbständigt habe und die Protagonisten sich am Ergebnis des Betriebs berauschten.

Leinemann, der als "Spiegel"-Autor den politischen Alltag in Bonn, Washington und Berlin intensiv kennengelernt hat, beschreibt in seinem Buch anhand unterschiedlicher Politikerbiographien und -porträts, wie Macht und politischer Betrieb immer mehr Besitz von der Persönlichkeit ergreifen. Bis diese Menschen die Bodenhaftung verlieren und sich ihr Leben auf hektische Gier nach Bedeutung verkürzt.

"Derzeit ist es ein wenig wie im Sandkasten", sagt Leinemann. "Da sitzen mit Schröder und Merkel zwei Verlierer, die beide behaupten, sie hätten von den Wählern den Auftrag erhalten, eine Regierung unter ihrer jeweiligen Führung zu bilden. Das ist ja wohl ein bißchen neben den Tatsachen." Beide müßten nun für sich eine Form finden, "wieder herunterzukommen". Schröders Ausbruch während der "Berliner Runde" am Wahlabend erklärt der Autor so: "Der Mann war einfach überdreht. Die Erschöpfung im Wahlkampf, dann dieses Ergebnis, da wollte Schröder die anderen einschüchtern, zeigen, wer Chef ist. Das ist ihm in der Form entglitten. Er hat eindeutig überzogen."

Der Bundeskanzler hatte die Medien heftig angegriffen, fiel den Moderatoren mehrfach ins Wort und stellte seinen Machtanspruch deutlich heraus.

Gestern erhielt Schröder Unterstützung für dieses Verhalten vom Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber. Alle Menschen hätten nur ein endliches Maß an Belastbarkeit. Schröders Auftritt sei sehr menschlich gewesen.

Die Parteien sollten aufhören, sich gegenseitig zu beschimpfen, und statt dessen die anstehenden Sachfragen klären, sagte Huber in Berlin. Das Verhältnis zwischen Bürgern und Politik dürfe nicht herumgedreht werden. Die Wähler hatten der Politik keine Ziele vorgegeben. Ihr Stimmverhalten als unvernünftig zu bezeichnen sei inakzeptabel.

Autor Leinemann rechnet mit einer großen Koalition als Lösung des Problems. "Es muß schnell etwas passieren. Aber es ist ja auch genügend vorbereitet und ausreichend Substanz vorhanden. Edmund Stoiber und Franz Müntefering haben Vorarbeit bei der Föderalismus-Reform geleistet, die Ministerpräsidenten Koch (Hessen) und Steinbrück (Nordrhein-Westfalen) bei ihrer Streichliste in Sachen Subventionen. Da gibt es ganz klare Übereinstimmungen", sagt er.