Deutschland darf sich jetzt nicht unverantwortlich verschulden, mahnt Niedersachsens Ministerpräsident.

Hamburg/Stade. Hamburger Abendblatt:

50 Milliarden für ein neues Konjunkturprogramm - woher soll das Geld eigentlich kommen, Herr Ministerpräsident?

Christian Wulff:

Ich sehe mit Sorge, dass man für dieses Paket offenbar ein Volumen von 50 Milliarden Euro ansteuert und gleichzeitig jeglichen Versuch der Einsparung an anderer Stelle unterlässt. Sinnvoll ist das Vorziehen von Infrastrukturmaßnahmen, Investitionen in Verkehrswege, Bildung, Breitbandversorgung der ländlichen Räume. Das stärkt den Wirtschaftsstandort Deutschland nachhaltig. Von Geldausgeben auf Pump, ohne in bleibende Werte investiert zu haben, halte ich wenig, denn dieses Geld ist anschließend weg und muss dauerhaft mit Zins und Zinseszins zurückgezahlt werden. Die Menschen wissen, dass eine Steuersenkung auf Pump die Steuererhöhung von morgen bedeutet.



Abendblatt:

Die Große Koalition hatte einen ausgeglichenen Staatshaushalt zu ihrem wichtigsten Ziel erklärt. Ist das jemals zu erreichen?

Wulff:

Wir sind in Gefahr, uns vom Ziel eines ausgeglichenen Haushalts unerträglich weit zu entfernen. Deswegen halte ich die Verankerung einer strengen Schuldenbremse im Grundgesetz für zwingend. Verstöße gegen ein Verbot der Neuverschuldung sollen nur unter engen Voraussetzungen möglich sein. Wir in Niedersachsen haben konsequent in diese Richtung gearbeitet und die Verschuldung von sechs Milliarden Euro 2002 und 2003 auf 250 Millionen Euro 2009 und 2010 reduziert. Wir sind der Überzeugung, dass der Staat mit dem Geld auszukommen hat, das ihm aktuell zur Verfügung steht. Was in Berlin derzeit vor sich geht, erinnert mich in verhängnisvoller Weise an die Fehler der ersten Großen Koalition in Deutschland.



Abendblatt:

Inwiefern?

Wulff:

Die Große Koalition 1966 bis 1969 hat die Grundlage für eine ausufernde Staatsverschuldung geschaffen. Sie unterlag der falschen Annahme, Politiker würden in schlechten Zeiten mehr Schulden machen und in guten Zeiten Schulden zurückzahlen. Das ist bis heute nicht eingetreten. Vielmehr hat Franz Josef Strauß recht behalten: Eher legt sich offenkundig ein Hund einen Wurstvorrat an, als dass Politiker Schulden zurückzahlen. Die Politik der Großen Koalition 2005 bis 2009 ist in Gefahr, wieder in eine unverantwortliche Verschuldung auszuufern, statt endlich die Kehrtwende ernsthaft zu betreiben. Meine Sorge ist, dass sich auch die zweite Große Koalition bei der Verschuldung an kommenden Generationen versündigt.



Abendblatt:

Sie waren strikt gegen schnelle Steuererleichterungen. Wie sehr hat es Sie geärgert, dass Kanzlerin Merkel dem Drängen der CSU nachgegeben hat?

Wulff:

Wir brauchen eine strukturelle Steuerreform. Ich teile die alte Überzeugung von Friedrich Merz, dass wir ein einfacheres, niedrigeres und gerechteres Steuersystem brauchen. Aber ich habe starke Zweifel, dass eine strukturelle Steuerreform mit den Sozialdemokraten möglich ist. Die sollten wir nach der Bundestagswahl mit der FDP machen.



Abendblatt:

Was bedeutet das für die Koalitionsrunde am Montag?

Wulff:

Die Vorschläge der Union, Grundfreibeträge zu erhöhen und die kalte Progression zu bekämpfen, sind grundsätzlich richtig. Meine Sorge ist allerdings: Die Position der CDU/CSU wird im Koalitionsausschuss nicht eins zu eins beschlossen, sondern muss erkauft werden durch Zugeständnisse an die SPD, die teuer kommen - und zwar Bund, Länder und Kommunen. Das erinnert mich fatal an "Wünsch Dir was" oder das "Laufende Band" von Rudi Carrell.



Abendblatt:

CSU-Chef Seehofer will Steuerentlastungen von bis zu 300 Euro für jeden Bürger durchsetzen. Ist das auch Ihre Vorstellung?

Wulff:

Die Erhöhung des Grundfreibetrags und die Abmilderung der kalten Progression können etwa 3,5 Milliarden Euro kosten. Daran hätten sich Länder wie Niedersachsen mit 175 Millionen Euro zu beteiligen. Das halte ich für verantwortbar. Aber meine Befürchtung ist, dass sich die Große Koalition auf weitere Mehrausgaben auf Drängen der SPD verständigt.



Abendblatt:

Die SPD wollte erst gar keine Steuern senken. Jetzt sagt Parteichef Müntefering, wenn es bei der Union "aus neurotischen Gründen" nicht anders gehe, werde man mitziehen. Welche Neurosen könnte er meinen?

Wulff:

Wir sind der Überzeugung, dass das Geld bei den Bürgern am besten aufgehoben ist und der Staat sich zurücknehmen sollte. Wir sind der Auffassung - und das ist keine Neurose, sonderneine feste marktwirtschaftliche Überzeugung -, dass die Senkung der Staatsquote in den vergangenen Jahren die wesentliche Ursache dafür ist, dass wir heute zwei Millionen Arbeitslose weniger haben. Die Menschen wissen mit ihrem Geld besser umzugehen als der Staat. Wir brauchen eine Staatsquote unter 40 Prozent, einen Spitzensteuersatz unter 40 Prozent und Lohnzusatzkosten unter 40 Prozent. Wenn die Menschen netto mehr vom Brutto haben, wirkt das stimulierend.



Abendblatt:

Wie muss das Konjunkturpaket aussehen, damit Niedersachsen im Bundesrat zustimmt?

Wulff:

Die Zustimmung Niedersachsens hängt entscheidend davon ab, wie stark die Beschlüsse zulasten Dritter - nämlich von Ländern und Kommunen - erfolgen. Die Länder sind am Rettungsschirm für die Finanzmärkte mit bis zu 7,7 Milliarden Euro beteiligt worden. Die Länder zahlen mit den Kommunen zusammen 60 Prozent des ersten Konjunkturpakets. Jetzt ist der Bund gefordert.



Abendblatt:

Soll heißen?

Wulff:

Wir erwarten, dass der Bund seine Verheißungen und Wunschkataloge weitgehend selbst finanziert. Die Länder sind willens, sich am Infrastrukturpaket angemessen zu beteiligen. Bei anderen Fragen muss der Bund die Konsequenzen tragen. Eine Senkung der Krankenkassenbeiträge etwa müsste allein vom Bund getragen werden.



Abendblatt:

Helfen niedrigere Krankenkassenbeiträge überhaupt der Konjunktur?

Wulff:

Da bin ich skeptisch. Im Übrigen halte ich die Geschwindigkeit, mit der die Steuerfinanzierung sozialer Sicherungssysteme ausgeweitet wird, für atemberaubend. Generell müssen wir uns doch fragen: Wo sind die größten Lecks im Schiff der Volkswirtschaft? Und da sehe ich zwei zentrale Probleme.



Abendblatt:

Die wären?

Wulff:

Das eine ist der Finanzmarkt, der nach wie vor nicht funktioniert. Es gibt eine Kreditklemme. Mittelständler berichten uns, dass sie Kredite schwerer bekommen und zu höheren Kosten. Deswegen müssen wir das Finanzmarktstabilisierungsgesetz - den Banken-Rettungsschirm - nachbessern. Die Laufzeiten der Bürgschaften sollten von drei auf fünf bis zehn Jahre verlängert, die Vergabekriterien gelockert werden. Darauf sollte sich die Politik als Erstes konzentrieren ...



Abendblatt:

... und als Zweites?

Wulff:

Betroffen ist doch vor allem die exportorientierte Wirtschaft: Werften, Automobilindustrie, Maschinen- und Anlagenbau. Diesen Industrien müssen wir helfen, etwa über das Kurzarbeitergeld. Diesen Industrien sollten wir die Garantie geben, dass auf sie in den kommenden Jahren keine stärkeren Belastungen zukommen. Sie brauchen Berechenbarkeit in Fragen der Lkw-Maut oder der CO2-Steuer. Die Umweltprämie muss am Montag kommen, damit die Automobilwirtschaft hier Klarheit hat. Die öffentliche Debatte darüber ist schädlich, weil sie Kaufzurückhaltung begründet. Bei alledem dürfen wir nicht übersehen: In Deutschland funktioniert der Konsum, ebenso der Immobilienmarkt. Wir haben nicht die Probleme von Island, Irland, Amerika oder Spanien. Deswegen dürfen wir uns von denen auch nicht infizieren lassen. Wir müssen nicht so aktionistisch agieren wie die Länder, die die großen Probleme haben.



Abendblatt:

Braucht Deutschland einen 100-Milliarden-Rettungsschirm für Firmen?

Wulff:

Wir müssen an Banken und Sparkassen appellieren, dass sie ihre Kredite in Zeiten der Krise nicht verknappen, verteuern, verweigern. Was wir derzeit beobachten, ist inakzeptabel. Ich bin auch dafür, dass Bund und Länder ihre Bürgschaftsmöglichkeiten für Unternehmen erweitern und offensiv nutzen. Der Staat darf aber nicht versuchen, ein Schutzbedürfnis zu befriedigen, das er nicht befriedigen kann. Der Staat sollte den Mund nicht zu voll nehmen. Das bewirkt nur Enttäuschungen.



Abendblatt:

Herr Wulff, wie haben sich die Machtverhältnisse in der Union verändert, seit Horst Seehofer an der Spitze Ihrer Schwesterpartei steht?

Wulff:

Eine starke CSU liegt im Interesse der CDU. Ohne 50 Prozent plus x der CSU kann die Union weder stark in Europa noch stark im Deutschen Bundestag auftreten. Das ist nicht nur für Bayern wichtig, sondern auch für norddeutsche CDU-Verbände. Es gibt in Norddeutschland Wähler, die die CDU vor allem deshalb wählen, weil es die CSU gibt. Ich wünsche Horst Seehofer jeden Erfolg.



Abendblatt:

Die CSU erwägt, mit einem eigenen Wahlprogramm in die Bundestagswahl zu ziehen. Was ist das für ein Signal?

Wulff:

Am Ende wird ein gemeinsames Wahlprogramm von CDU und CSU zur Europa- und zur Bundestagswahl stehen. Genauso wie es eine Koalitionsaussage der Union zugunsten der FDP geben wird. Davon bin ich fest überzeugt. Darauf arbeite ich hin.



Abendblatt:

Welche Wahlkampfstrategie empfehlen Sie? Auf die Kanzlerin kommt es an?

Wulff:

Die allseits anerkannte Kanzlerin gehört in den Mittelpunkt der Wahlkampfführung, gerade in schwierigen Zeiten. Dazu müssen weitere Themen neben Wirtschaft und Finanzen und weitere Personen an vorderster Stelle für die Union werben. Dazu gehört dann beispielsweise Horst Seehofer.



Abendblatt:

Sie selbst nicht?

Wulff:

Ich will den Erfolg der Union. Als niedersächsischer Ministerpräsident tue ich dafür, was ich kann. Wie in der Vergangenheit so auch in der Zukunft.



Abendblatt:

Werden Sie in einem Wahlkampfteam Merkel sein?

Wulff:

Als Stellvertreter Angela Merkels gehöre ich zur Unionsspitze und bringe mich voll ein. Ich werde alles dafür tun, dass Angela Merkel die Bundestagswahl gewinnt.



Abendblatt:

Mit welchem Ergebnis?

Wulff:

Entscheidend ist eine bürgerliche Mehrheit von CDU, CSU und FDP. Die CDU muss den Anspruch haben, 40 Prozent plus x zu erzielen.