Nicht einmal für Kanzler Schröder war der frustrierte Finanzminister erreichbar, nachdem er ihm sein Rücktrittsschreiben zugeschickt hatte. Was den Eklat verursacht hat, warum er die Börsenkurse nach oben trieb und wie er das politische Deutschland veränderte.

Am Nachmittag des 11. März 1999 joggt Außenminister Joschka Fischer mit seinen Sicherheitsbeamten am Rhein entlang. Nicht weit entfernt vom Bonner Regierungsviertel erhält Fischer einen Anruf. Gerhard Schröder ist am Handy. Er zitiert Fischer umgehend ins Kanzleramt ("Nicht duschen, gleich kommen") - ohne ihm zu sagen, worum es geht. So eilt Fischer ahnungslos in kurzer Hose und mit Baseballkappe in die Regierungszentrale. Hier berichtet Schröder Fischer von einer sich anbahnenden politischen Sturmflut, die bis heute, zehn Jahre später, nicht vollkommen abgeebbt ist: Der Kanzler teilt ihm mit, Oskar Lafontaine habe all seine politischen Ämter niedergelegt.

Lafontaines Rücktritt war die erste Zäsur in der Geschichte der rot-grünen Koalition, die ein halbes Jahr zuvor ihre Arbeit aufgenommen hatte. Mit seinem Weggang aus Bonn begann Lafontaines Entfremdung von der SPD, die später in seinem Austritt und - im Jahre 2005 - dem Engagement bei der Gründung der Partei Die Linke gipfelte. Diese Entwicklung führte mittelbar nicht nur zur Bildung der Großen Koalition: Sie hält mit der Etablierung des Fünf-Parteien-Systems und den Diskussionen um rot-rote Koalitionen bis heute die Republik in Atem - zumal im Super-Wahljahr 2009.

Es war eine andere Republik, in der Lafontaine 146 Tage als Finanzminister wirkte. Helmut Kohl saß noch im Bundestag, Rot-Grün regierte am Rhein, man zahlte mit D-Mark, und der Begriff Terror weckte Erinnerungen allenfalls an die IRA. Gemeinsam hatten Schröder und Lafontaine mit dem Slogan "Innovation und Gerechtigkeit" die SPD bei der Bundestagswahl am 27. September 1998 zur stärksten Partei gemacht. Die beiden "Enkel" Willy Brandts misstrauten einander zwar seit jeher, gingen aber einen Burgfrieden ein und inszenierten nach außen eine Männerfreundschaft. Reichlich kühn behaupteten beide, zwischen sie passe "kein Blatt Papier". Erst dieses Zweckbündnis schuf die Grundlage für den Wahlsieg der SPD.

Das Amt des Kanzlers aber musste der SPD-Vorsitzende Lafontaine seinem Parteifreund Schröder überlassen. Er selbst schlug, sehr ungeschickt, den Fraktionsvorsitz aus und wurde Finanzminister - in der Hoffnung, als mächtiger Schatzkanzler den wahren Kanzler einzugrenzen. Dieser Plan aber ging nicht auf. Schröder und Lafontaine und ihre jeweiligen Gefolgsleute beäugten einander skeptisch. Während der "Automann" Schröder einen wirtschaftsfreundlichen, politisch pragmatischen Kurs fuhr, stand Lafontaine für dogmatischen Sozialstaatskonservatismus. Er plädierte für mehr Lohnfortzahlung, mehr Kündigungsschutz und höhere Renten.

Schröders Kanzleramtsminister Bodo Hombach hielt von all dem gar nichts und ließ seine Abneigung Lafontaine spüren. Hombach wollte die SPD nach dem Vorbild der britischen Labourpartei modernisieren, was Lafontaine um jeden Preis zu verhindern suchte. Er beklagte Einfluss und Geltungssucht Hombachs, der wiederum von Schröder gedeckt wurde. Es kam zu Spannungen. Wollte die SPD mit diesem ungleichen Duo die Republik regieren?

Am 10. März 1999 kommt es zu einem auf Lafontaine zielenden Warnschuss Schröders im Kabinett. Lafontaine hatte mit seinem Wettern gegen Schröders wirtschaftsfreundliche Politik den Kanzler kräftig verärgert. So verweist Schröder bei jener Kabinettssitzung am Mittwochvormittag auf die schlechte Wirtschaftslage und die steigende Arbeitslosigkeit. Und Lafontaines Sozialstaatspläne unterstützten für Schröder diesen Trend noch. Das spricht der Kanzler zwar nicht offen aus, aber er droht seinen Ministern: "Es wird einen Punkt geben, wo ich die Verantwortung für eine solche Politik nicht mehr übernehmen werde." Schröder brüllt oder zürnt bei diesen Worten nicht, er spricht sachlich und ruhig. Lafontaine signalisiert keinen Widerspruch.

Noch am Abend nach der Kabinettssitzung wirkt Lafontaine einigermaßen entspannt. Er empfängt Vertreter des linken SPD-Flügels in seinem Ministerbüro. Um 18.56 Uhr meldet die Deutsche Presse-Agentur dann unter Berufung auf die "Bild"-Zeitung des folgenden Tages, Schröder habe mit Rücktritt gedroht. Wenige Minuten später wird Lafontaine diese Meldung in sein Büro gereicht. Er verliest diese sogleich - und ist außer sich. "Absurd" sei das, schreit Lafontaine und weist seine Presseberaterin an, bei Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye anzurufen: "Der Gerd soll das dementieren!" Heye behauptet, genau das bereits auf allen Kanälen zu tun. Lafontaine aber bleibt misstrauisch und wähnt als Quelle der Indiskretion das Kanzleramt selbst. Sein Verdacht fällt dabei auf Hombach.

"Schröder droht mit Rücktritt!" prangt am folgenden Donnerstag in großen Lettern auf der Titelseite der "Bild". Heye dementiert abermals pflichtgemäß. Hombach, Schröders Bollwerk gegen Lafontaine also, erinnert sich: "Vor seinem Rücktritt führten Lafontaine und ich ein Gespräch. Schröder hatte mich darum gebeten. Das Gespräch war konfrontativ, zum Inhalt kann ich nichts Näheres sagen. Am nächsten Tag trat Lafontaine zurück." Wie auch immer diese Unterhaltung abgelaufen sein mag: Lafontaine hat es wohl als Demütigung empfunden, mit dem ihm verhassten Hombach reden zu müssen. Er verliert die Nerven, nachdem er zuvor erkannt hat, dass ihn sein mächtiges Ministerium schlichtweg überforderte.

Bereits am Mittag des 11. März rufen amerikanische Analysten im Kanzleramt an und fragen, ob ein Rücktritt Lafontaines bevorstehe. An der Wall Street werde diese "News" als heißer Tipp gehandelt. Lafontaines Sprecher im Finanzministerium, Torsten Albig, dementiert. Er weiß von nichts. Nur wenige Minuten später, gegen 15.40 Uhr, liefert ein Bote Lafontaines einen Brief im Vorzimmer Schröders ab. "Für Herrn Bundeskanzler - persönlich" ist darauf zu lesen. Schröder fällt aus allen Wolken, als er den Brief liest. "Sehr geehrter Herr Bundeskanzler", heißt es darin, "ich trete hiermit als Bundesminister der Finanzen zurück. Mit freundlichen Grüßen, Oskar Lafontaine". Schröder versucht Lafontaine anzurufen. Es gebe "keinen Gesprächsbedarf", teilt dessen Büro dem Kanzler lapidar mit.

Gegen 17.30 Uhr surren in den Bonner Redaktionen die Faxgeräte. Auf Papier ohne Briefkopf und vier eilig getippten Zeilen teilt Schröders Regierungssprecher Heye mit: "Der Bundesminister der Finanzen, Oskar Lafontaine, ist heute von seinem Amt zurückgetreten. Der Bundeskanzler hat den ihn überraschenden Rücktritt bedauert und Oskar Lafontaine für seine Arbeit gedankt."

An der Wall Street steigen die Aktien deutscher Unternehmen, nachdem die Agenturen die Meldung bringen, die Aktienhändler in Frankfurt haben schon Feierabend. Am nächsten Tag schießt der Dax um 5,3 Prozent in die Höhe. Der Euro legt gegenüber dem Dollar um zwei Cent zu.

Am Abend aber ist noch unklar, von welchen Posten sich Lafontaine trennte. Doch Lafontaine war stets ein Mann ohne Maß und Mitte: Der einstige Hoffnungsträger der Sozialdemokratie legt deren Vorsitz, den Posten des Finanzministers sowie das Bundestagsmandat nieder, er wirft all seine Ämter "wie ein dreckiges Hemd" (Hans-Jochen Vogel) von sich.

Sogleich lässt Schröder seine engsten Vertrauten zusammentrommeln, unter ihnen Hombach und Staatssekretär Frank-Walter Steinmeier. In seiner Jogging-Montur erreicht Joschka Fischer das Kanzleramt. Am späten Nachmittag gibt SPD-Bundesgeschäftsführer Ottmar Schreiner den Rücktritt seines Parteivorsitzenden bekannt. Auch er war über Lafontaines einsamen Schritt nicht vorab informiert worden. Von seinen "lieben Parteifreundinnen und Parteifreunden" verabschiedet sich Lafontaine mit einem zynisch anmutenden Satz: "Ich wünsche euch für die Zukunft eine erfolgreiche Arbeit für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität."

Gegen 18 Uhr trifft Lafontaine daheim in Saarbrücken ein. Er lässt die Rollläden seines (damals noch bescheidenen) Wohnhauses herunter. Telefonisch ist Lafontaine nicht erreichbar. Der Anrufbeantworter läuft; die Stimme seiner Ehefrau Christa Müller ist darauf zu hören: "Bitte sprechen Sie nach dem Signalton ..." Nur zwei enge Freunde werden im Hause Lafontaine, Am Hügel 26, empfangen: Hans-Georg Treib und Reinhard Klimmt. Ihnen berichtet er beim Rotwein über "Intrigen" im Kanzleramt und seine Verärgerung über Schröder. "Ich bin jetzt Privatmann", ruft Lafontaine den beiden Männern beim Gehen zu: "Und morgen kann ich ausschlafen."

Lafontaines Trauzeuge Treib berichtet, sein Freund sei erleichtert, dass er "der Mühle" entkommen sei. Hauptgrund für den Rücktritt sei Lafontaines Sorge um seinen zweijährigen Sohn Carl Maurice; der streckt den Fotografen vom Balkon des Hauses die Zunge heraus. Lafontaine, sagt Treib, werde fortan "Privatmann sein". Er ist überzeugt: "Es wird den Politprofi Oskar Lafontaine nicht mehr geben." Lafontaines Traum sei immer gewesen, "einen Bauernhof zu haben mit der entsprechenden Lebensweise". Lafontaines frühere Ehefrau Margret ätzt derweil: "Vielleicht wird er ja jetzt Erster Vorsitzender des Kaninchenzüchter-Vereins. Vielleicht will er ja auch Papst werden ..."

Der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Glogowski schlägt, kaum ist Lafontaine zurückgetreten, Schröder als neuen SPD-Chef vor. Sogleich wird der abgewählte hessische Ministerpräsident Hans Eichel als künftiger Finanzminister gehandelt. Jene schnellen Personalvorschläge bestätigen Lafontaines Umfeld in der Vermutung, Schröder sei über den Rücktritt erleichtert.

Schröder sagt eine für 18 Uhr geplante Präsentation des neuen Buchs des britischen Soziologen Anthony Giddens ("Der dritte Weg") ab. Er lässt den Text seiner Rede in der "Süddeutschen Zeitung" abdrucken. Lafontaine dürfte sich dadurch in seiner Entscheidung bestätigt gefühlt haben, verweist Schröder in seinem Text doch explizit auf die Notwendigkeit, den Sozialstaat umzubauen. Und: Die Sozialdemokratie dürfe sich dabei nicht so aufführen, als müsse sich ihre Wirtschaftspolitik "in erster Linie gegen die Wirtschaft richten". Um Punkt 20 Uhr tritt Schröder im Kanzleramt mit versteinerter Miene vor die Presse. "Oskar Lafontaine hat mir heute Nachmittag seinen Rücktritt vom Amt des Bundesfinanzministers mitgeteilt ..." Er dankt ihm, lässt keine Fragen zu und verschwindet.

Am Sonnabendvormittag zeigt sich Lafontaine erstmals seit dem Rücktritt der Öffentlichkeit. In einer Strickjacke tritt er, seinen Sohn auf den Schultern, auf den Balkon seines bewachten und von Reportern umlagerten Hauses. "Macht mal schön eure Fotos", ruft er herunter. "Und dann hätte ich gern, dass ihr uns ein bisschen in Ruhe lasst. Tschüs!"

Drei Tage nach seinem Rücktritt, am 14. März 1999, liefert Lafontaine scheibchenweise die Begründung seines Schrittes nach. Lafontaine spricht an jenem Sonntag vor seinem Haus von einem "schlechten Mannschaftsspiel" und beklagt die Entscheidung der Bundesregierung, sich am Kosovo-Krieg zu beteiligen. Diese außenpolitische Begründung aber war an den Haaren herbeigezogen. Fast ein halbes Jahr später meldet sich Lafontaine ausführlich zu Wort. Inzwischen hatte er ein Buch ("Das Herz schlägt links") verfasst, in dem er seinen Rücktritt rechtfertigt. "Ich habe mich in einer konkreten Situation auch für meine Familie entschieden", meint er damals: "Ich bin der Auffassung, dass ein überzeugender Politikbeitrag auch dann Wirkung entfaltet, wenn der Autor keine Ämter hat."