Schröder wollte die SPD-Basis in Hamburg auf seine Agenda 2010 einschwören. Doch Begeisterung kam unter den 1200 Zuhörern nicht auf.

Hamburg. Holger Gröschel hält die rote Fahne hoch. Der Metaller steht seit 17 Uhr vor der Fischauktionshalle. Er will nur Dampf ablassen, seinem Ärger über den Kanzler und dessen Reformen Luft machen. "Ändern können wir nichts mehr", glaubt er. Und für Schröder sieht er auch schwarz: "Er hat sich mit der Agenda sein eigenes Grab geschaufelt." Den Kanzler bekommt er gar nicht zu sehen. Der steigt um 18.48 Uhr am Hintereingang aus seinem Audi A 8. Vom Pfeifkonzert der knapp 200 Gewerkschafter vorm Haupteingang hört er nichts."IG-BAU-Chef Klaus Wiesehügel sieht Sie am Ende", brüllt ein Reporter. "Ich nicht", sagt Schröder lächelnd und geht rein. Trotzdem: Kein leichter Gang - mit 4,5 Millionen Arbeitslosen und Umfragewerten von 29 Prozent für die SPD im Nacken. Es dauert 20 Minuten, ehe sich der Hauptdarsteller auf dem Podium blicken lässt. Vorne stehen die Sozialdemokraten auf und beklatschen ihren Vorsitzenden - dort waren die Plätze reserviert für Mandats- und Funktionsträger der Partei. Hinten bleibt die Mehrheit der insgesamt 1200 Genossen sitzen, und vereinzelt pfeifen einige. Generalsekretär Olaf Scholz spricht nur kurz. Die anstehenden Entscheidungen seien nicht leicht, vielen falle es schwer, sie mitzutragen. Aber was die CDU wolle, das sei noch viel schlimmer. Dann erklärt er den Ablauf der Konferenz. "Zunächst kommt keine Parteiprominenz zu Wort, sondern die Basis", erklärt Scholz - und erteilt Schröder das Wort. Die Anspannung löst sich für einen Moment. Der Kanzler scherzt, er habe gar nicht gewusst, dass er zur Basis gehöre. Der Kanzler spricht von Außenpolitik. Zehn Minuten lang. Vom Irak und von Afghanistan, von Verantwortung und vom gefährlichen Kurs der politischen Mitbewerber. Viele klatschen, noch mehr lassen es. Die ersten schauen genervt. "Rede mal über die Agenda!", brüllt einer. Schröder redet von Regierungsfähigkeit, und dass es diese Außenpolitik ohne eine SPD-Regierung eben nicht gegeben hätte. Dann nimmt er die Kurve zur Sozialpolitik. "Festhalten an dem, was ist", sagt er, "das ist keine gute Politik." Die SPD dürfe den bitteren Realitäten nicht ausweichen, sie laufe nicht weg. Und dann droht er wieder mit den anderen. "Wenn wir die Agenda nicht umsetzen, dann wird der Prozess an uns vorbei gemacht, auch zum Schlechteren der Menschen, die keine Arbeit haben", sagt Schröder. Das Publikum wird langsam munter. Der Applaus wird lauter, die Buhrufe auch. Schröder bleibt im Allgemeinen. Er spricht von schmerzhaften Einschnitten, vom schweren Gang, von Kraft, die man brauche, um die Substanz des Sozialstaats zu erhalten. "Nur der von mir verteidigte Weg macht uns fit für die Herausforderungen in Deutschland", sagt Schröder. Kein Wort von Krankengeld, von Kürzung der Arbeitslosenhilfe, von Renten. Und kein Wort von Genossen. Bei Schröder sind es die "lieben Freundinnen und Freunde". Zum Schluss sagt er: "Gestaltung ist nur mit Regierungsmacht möglich. Das wissen wir Sozialdemokraten." 27 Minuten hat er gesprochen, 90 Sekunden dauert der Applaus. Zufrieden sind viele, begeistert keiner. Nun bittet Heide Simonis die Basis ans Mikro. Als Erstes der Genosse Thomas Stölting", sagt sie. Er ist für die Agenda - wie die nächsten beiden Redner. "Wir in Kiel haben die Kommunalwahl verloren, jetzt macht Schwarz-Grün sozialen Kahlschlag", sagt Alexander Möller. Dann mahnt er: "Überlegt euch, was die Folgen sind, wenn wir keine Reformen machen." Der Saal mit den 1200 ist gespalten. Schröder lächelt professionell. Dann kommt Harald Muras aus Harburg. "Vor sechs Monaten habe ich mit Kündigungsschutz und Rentenpolitik Wahlkampf gemacht. Heute sagt man mir, ich sei nicht auf der Höhe der Zeit, weil ich immer noch dieser Meinung bin", sagt Muras. Und jetzt wird es laut, der Saal johlt. "Recht hat er!", brüllt einer. "Nö", kontert eine Frau. Nun kommt Anja Cicek aus Seefeld und mit ihr die Vermögensteuer. "Warum gibt es keine Vermögensteuer? Warum bekommen Reiche Kindergeld und Eigenheimzulage?", fragt sie. Tosender Beifall. Schröder lächelt weiter. Wolfgang Clement nicht. Warum auch sollte er ausgerechnet heute Abend damit anfangen? Otto Andresen ist Rentner. "Gegen einen SPD-Kanzler zu demonstrieren, ist eigentlich ein Unding für mich", sagt er. Auch er will die Vermgensteuer. "Wer einen Lamborghini fährt, kann auch zehn Prozent abdrücken." Und: "Nicht immer unten rasieren!" Es ist kein Triumph-Abend für Schröder, ein Fiasko freilich auch nicht. Alfred Hilger aus Osnabrück ist ein Pragmatiker. Er plädiert für Änderungen im Detail - und vor allem für ehrliche Debatten. "Die Parteiführung muss Vorgaben machen, aber die Basis muss die echte Chance zur Mitwirkung haben", sagt er. Jetzt geht Schröder wieder in die Bütt. Die Vermögensteuer brächte mehr Verwaltungskosten als Einnahmen", sagt er. Und sei im Bundesrat ohnehin nicht durchzusetzen."Das jetzt zu fordern, ist doch keine vernünftige Politik!" Und als ein Genosse aus Niedersachsen zum wiederholten Male dazwischenbrüllt, wird Schröder böse: "Ich habe mich acht Jahre als Ministerpräsident krumm gemacht. Und du bist jetzt mal ruhig. Bring mich doch nicht in Rage." Und dann: Parteitagsbeschlüsse seien das eine, die politische Realität manchmal das andere. Und zu den Gewerkschaftern in der SPD: "Mäßigt eure Sprache! Das ist keine Form der Auseinandersetzung, die Sozialdemokraten nötig haben." Die meisten applaudieren. Hat er den Saal jetzt gewonnen? Norbert Stindt hat er nicht gewonnen. "Die Genossen bei uns in Dulsberg sind stinksauer." Sollte die Agenda so beschlossen werden, für diesen Fall prophezeit er Massenaustritte aus der SPD. "Viele Distrikte werden aufhören zu existieren", sagt er mahnend. Schröder hörts regungslos an. Wolfgang Rose ist zerrissen. "Ich bin seit 30 Jahren Sozialdemokrat und Gewerkschafter. Es war noch nie so schwierig, beides zugleich zu sein", sagt Hamburgs Ver.di-Chef am Rande. Im Zweifel, sinniert er, sei er aber zuerst Gewerkschafter. Felix Welti, Jurist aus Lübeck, mahnt gerechte Alternativen an. "Dafür bekommt man keinen Beifall von Arbeitgeberpräsident Hundt und ,Handelsblatt'. Aber von den Menschen, die arbeiten, Beiträge zahlen und Kinder erziehen - von unseren Wählern also." Jetzt sprechen fast nur noch Kritiker. Schröder nimmt es gelassen - verloren hat er sein Lächeln nicht. Aber er schaut jetzt öfter nachdenklich. Hat er die Arbeitslosenzahlen und die Umfragewerte für seine SPD im Hinterkopf? Vorm Eingang wird schon lange nicht mehr gepfiffen. Die Gewerkschafter sind mit ihren Trillerpfeifen schon vor Stunden wieder abgezogen.