Die Ägypter wollen nach dem Sturz von Husni Mubarak nicht schon wieder einen Alleinherrscher und gehen erneut auf die Straße.

Berlin. Die Ägypter wollen sich ihre Revolution nicht stehlen lassen, nicht von alten Mubarak-Kadern, nicht vom Militär und auch nicht von Präsident Mohammed Mursi, der sich geriert wie ein "guter Diktator". Gemessen an seiner Machtfülle steht der 61 Jahre alte Ingenieur aus dem Lager der Muslimbrüder jedenfalls dem gestürzten "Pharao" Husni Mubarak in nichts nach. Die Ägypter haben allerdings keine guten Erfahrungen mit dieser Form der absoluten Herrschaft gemacht, und so gehen sie nun erneut auf die Straßen und zu jenem Ort, der wie kein anderer für die Befreiung vom Joch der Diktatur steht: Tahrir, Platz der Befreiung.

Mit denselben Sprechchören wie einst beim Sturz Mubaraks ziehen wieder Hunderttausende Ägypter ins Zentrum Kairos. "Das Volk will das Regime stürzen!", rufen die Leute. "Der Präsident soll zurücktreten." Auf einem Banner steht: "Die Bruderschaft hat das Land gestohlen und die Revolution gekidnappt." Auf der sozialen Nachrichtenplattform Facebook moniert jemand: "Heute wollen jene Islamisten, die damals abseits standen, das Baby Freiheit in der Wiege erdrosseln." Und ein anderer warnt: "Aber es ist ein sehr starkes Baby. Und wer das Baby erwürgen möchte, riskiert viel."

Der Euphorie im Zuge des Arabischen Frühlings ist in Ägypten aber auch in Tunesien und Libyen der Angst gewichen, vom Regen in die Traufe zu kommen. Der Präsident von Gnaden der Muslimbrüder hat sich noch keiner großen politischen Vergehen schuldig gemacht, aber die Ägypter wissen eben auch nicht, ob das so bleibt. Sie wehren den Anfängen einer möglichen neuen Autokratie mit anderem Personal und unter islamistischen Vorzeichen. Der libanesische Journalist Eyad Abu Schakra spricht nicht ohne Grund von einem "sanften Staatsstreich" der Muslimbrüder. Und das Militär scheint nichts dagegen zu haben - eine bizarre Allianz, die aber wiederum auch Brüche aufweist: Einer Bitte Mursis an die Armee, die Büros und Einrichtungen der Bruderschaft zu schützen, wollten die Generäle nicht nachkommen.

Mursi, der seinen Vermittlungserfolg im Gazakonflikt und das weltweite Lob dafür sofort in innenpolitische Münze umwandeln wollte, hat offenbar unterschätzt, worum es seinem Volk im Kern geht. Der Widerstand gegen seine Dekrete, mit denen er sich zur unantastbaren Person gemacht und mit der Allmacht nordkoreanischen Zuschnitts ausgestattet hatte, ist groß und eint sogar die teilweise chaotische und heterogene Opposition. Mursi trifft auf eine kampferprobte, mutige und nach den Opfern während des Aufstands gegen Mubarak offenbar zu allem entschlossene Gesellschaft.

"Die Macht hat das wahre Gesicht der Bruderschaft enthüllt", sagt die Hausfrau Laila Salah stellvertretend für die 200 000 Menschen auf dem Tahrir-Platz. Sie hatte selbst im vergangenen Sommer für Mursi gestimmt und ist nun enttäuscht. Nach dem Sturz Mubaraks würden die Ägypter es nicht zulassen, erneut von einem Diktator regiert zu werden, sagt sie. "Es ist wie mit einer Frau, die von ihrem Mann geschlagen wurde: Wenn sie sich scheiden lässt und zum zweiten Mal heiratet, wird sie niemals nur einen weiteren Tag der Misshandlung hinnehmen." Morgen wird sich zeigen, wie nachhaltig der Massenprotest ist, dann nämlich hat die Opposition erneut zu einer Großdemonstration auf dem Tahrir gerufen. Am darauffolgenden Sonnabend wollen dann die Muslimbrüder ihre Stärke zeigen.

Einen ersten Sieg kann das Oppositionslager aber jetzt schon verzeichnen: Das Mursi-Lager sagte eine geplante Großkundgebung in Kairo ab, um nach etlichen Zusammenstößen "die Spannung zu entschärfen", wie es hieß. US-Außenministerin Hillary Clinton, die seit der gemeinsamen Verkündung der Waffenruhe zwischen Israel und der radikalislamischen Hamas im Gazastreifen einen direkten und guten Draht zu ihrem ägyptischen Amtskollegen Kamel Amr unterhält, übermittelte diesem die "Sorge der USA über die politische Situation in Ägypten". Washington wünsche eine Entwicklung, bei der die Macht nicht zu stark in einer Hand konzentriert sei und die Gewaltenteilung gewahrt bleibe. Dem wäre nicht mehr so, wenn Mursi mit seinen Dekreten durchkäme. Für den Politologen und gebürtigen Ägypter Hamed Abdel-Samad befindet sich Ägypten in einem "inneren Kampf der Kulturen", der darüber entscheiden werde, in welche Richtung sich das Land entwickelt. Die Muslimbrüder seien durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen, aber sie hielten sich nicht an die Regeln der Demokratie. Mursi wolle seine Macht sichern, weil sie wackelt.

Tatsächlich sind die gesellschaftlichen Oppositionsgruppen nicht allein im Kampf gegen Mursis Allmacht. Die von ihm düpierte Justiz macht zunehmend Front gegen ihre Entmündigung. Die zwei höchsten Berufungsgerichte des Landes stellten gerade ihre Arbeit ein. Richter des Revisionsgerichts hätten in einer Krisensitzung beschlossen, erst wieder Fälle zu verhandeln, wenn Mursi seine Dekrete zurücknehme, berichtete das Staatsfernsehen. Auch das niedriger gestellte Berufungsgericht kündigte eine landesweite Arbeitsniederlegung an.

Aber nicht alle Juristen haben ihre Tätigkeit eingestellt. Ein Strafgericht will sieben christliche Auswanderer wegen des umstrittenen Mohammed-Schmähfilms zum Tode verurteilen. Dies entschied der Richter in Kairo in Abwesenheit der Angeklagten. Die gebürtigen Ägypter sollen sich in den USA und in Australien aufhalten. Unter ihnen ist auch Elie Bassily, der das Pseudonym Nakula Bassily Nakula benutzt hatte. Vor der Urteilsverkündung am 29. Januar muss erst noch der Mufti der Republik zustimmen. Dies ist bei Todesurteilen in Ägypten Vorschrift.

Den sieben koptischen Christen wird vorgeworfen, sie seien an der Produktion des in den USA hergestellten Films beteiligt gewesen, der Mohammed, den Propheten des Islam, als grausamen, grenzdebilen Weiberhelden und Kinderschänder darstellt. Blasphemie ist in Ägypten ein Straftatbestand. Ausschnitte aus dem billig produzierten Streifen wurden im Prozess als Beweismittel gezeigt. Der Film hatte im September zu gewaltsamen Protesten in mehreren islamischen Staaten geführt. Mehrere US-Botschaften wurden attackiert.