Erst Island, dann das Baltikum, nun erneut Griechenland: Die Gefahr sozialer Unruhen wächst auch in Westeuropa.

Hamburg. Die Rezession ist in weiten Teilen Europas bei den Menschen angekommen. Der Kontinent blickt schon jetzt auf einen Januar mit Unruhen und Ausschreitungen zurück, wie es ihn seit Jahrzehnten nicht gegeben hat. In Athen kam es wieder zu Randale, griechische Bauern blockieren Grenzübergänge, auf Island haben Demonstranten Neuwahlen durchgesetzt. Noch heftiger als in dem Inselstaat waren die Proteste zuletzt in den baltischen Staaten. In Lettland, das wie Island nur durch internationale Hilfe vor dem Staatsbankrott bewahrt wurde, und in Litauen mündeten Demonstrationen gegen die Sparmaßnahmen der Regierungen in blutigen Ausschreitungen. Auch Bulgariens Hauptstadt Sofia war vor einer Woche Schauplatz von Massenprotesten und Straßenschlachten. Experten befürchten nun, die Welle der Gewalt könne demnächst Westeuropa erreichen. Besonders in Frankreich und Spanien drohen soziale Unruhen.

Auf Island haben die Demonstranten gewonnen. Erst kamen sie jede Woche, zuletzt dann täglich vor das Parlament. Und nun steht Island wegen der katastrophalen Folgen der Finanzkrise vor Neuwahlen am 9. Mai. Der konservative Regierungschef Geir Haarde wird nicht mehr antreten. Haarde hatte zunächst für Wahlen am Jahresende plädiert. Doch der Druck der Straße war zu groß: Derart heftige Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei hat die Insel seit dem Nato-Beitritt 1949 nicht erlebt. Die Empörung unter den 320 000 Einwohnern über die Finanzpolitik der Regierung wollte über Monate hinweg nicht abebben. Nach dem Zusammenbruch der drei größten Banken konnte ein drohender Staatsbankrott nur durch Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) und befreundeter Staaten abgewendet werden. Seitdem ist die Arbeitslosigkeit auf Island massiv gestiegen.

Auch in Griechenland ist die Lage weiter gespannt. Dort gehen die Bauern wegen des drastischen Preisverfalls der Agrarprodukte auf die Barrikaden. Sie blockierten die wichtigste Straßenverbindung auf dem Balkan und die Grenzübergänge zu Mazedonien und zur Türkei.

Ein Hilfspaket von 500 Millionen Euro lehnten sie ab. "Es sind nur Krümel, was der Staat uns gibt", sagte ein Gewerkschaftssprecher. "Mehr Geld haben wir nicht", entgegnete ein Sprecher des Agrarministeriums. Auch in Athen kam es erneut zu Ausschreitungen. Nach einer Demonstration von rund 400 Reinigungskräften warfen Randalierer Steine auf die Polizei, zündeten Mülltonnen an und schlugen Schaufenster von Geschäften und Banken ein.

"Alle bisherigen Brandherde in Europa haben eine gemeinsame Grundursache: die Auswirkungen der Globalisierung", sagt Jan Techau, Europa-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin. "Die Wirtschaftskrise hat alle Staaten gleichzeitig getroffen. Das hat es so noch nie gegeben."

Techau befürchtet, dass die Welle der Gewalt demnächst auch Westeuropa erreicht. "In Frankreich und Spanien ist viel sozialer Sprengstoff vorhanden." Spanien leide wegen seiner einseitigen Abhängigkeit von der Bauwirtschaft besonders unter der Wirtschaftskrise. "Die Gefahr für Unruhen ist beträchtlich", so Techau. Genauso in Frankreich: "Das Land hat Integrationsprobleme, eine große Protesttradition und dazu völlig leere Staatskassen. Die Regierung hat kaum Spielraum für Konjunkturmaßnahmen." Eine Einschätzung, die auch in Frankreich geteilt wird. Georges Martin, ein Sprecher der französischen Gewerkschaft CGT, sagte dem Magazin "Economist": "Sie haben gesehen, was in Griechenland geschehen ist. Auch hier wartet die soziale Bombe darauf zu explodieren."