Amnesty: Heckenschützen, Streubomben, wahllose Schüsse. Gaddafis Krankenschwester sucht in Norwegen Asyl. Neues Flüchtlings-Drama.

Tripolis/Paris/Rom/Oslo. In Libyen verdichten sich nach Angaben der Menschenrechts-Organisation Amnesty International die Hinweise, dass die Truppen von Machthaber Muammar al-Gaddafi bei ihren Angriffen auf die Stadt Misrata Kriegsverbrechen begehen. Der wahllose Beschuss von Wohngebieten mit Granaten und Raketen, die Tötung von Zivilisten durch Heckenschützen und der Einsatz von international geächteten Streubomben im städtischen Umfeld stellten massive Verletzungen entsprechender Konventionen zum Schutz der Zivilbevölkerung dar, stellt die Organisation in ihrem jüngsten Bericht fest. „Bei den häufigen und oft wahllosen Angriffen der Truppen von Oberst Gaddafi auf Wohngebiete wurden zahllose Bewohner, die am bewaffneten Konflikt nicht teilnahmen, getötet und Hunderte verletzt“, heißt es in dem mehr als 40 Seiten starken Bericht „Misrata – Unter Belagerung und unter Feuer“.

Der Bericht dokumentiert ausführlich einige dieser auch militärisch fragwürdigen Attacken und ihre Opfer. „Auf der Grundlage der bisherigen Untersuchungen glaubt Amnesty International, dass einige der von den Truppen von Oberst Gaddafi begangenen Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht in Misrata und anderswo im Land Kriegsverbrechen darstellen könnten.“

Misrata, mit 300.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Libyens, ist die einzige Großstadt im westlichen Landesteil, die von den Regimegegnern kontrolliert wird. Die Gaddafi-Truppen belagern sie seit mehr als zwei Monaten. Nach Angaben der Regimegegner wurden bei den Angriffen bis zu 1000 Menschen getötet. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hatte bereits im April berichtet, dass die Gaddafi-Truppen auch Streubomben gegen Wohngebiete einsetzen.

Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, Luis Moreno-Ocampo, will in den kommenden Wochen offiziell Haftbefehl gegen drei Libyer wegen Verstoßes gegen das humanitäre Völkerrecht beantragen. Die drei Regimegrößen, deren Namen er nicht nannte, sollen „umfassend und systematisch“ friedliche Demonstranten getötet haben, hatte Moreno-Ocampo am Mittwoch bei einer Sondersitzung des Uno-Sicherheitsrats in New York erklärt. Den bewaffneten Auseinandersetzungen in Libyen waren friedliche Bürgerproteste vorangegangen, die vom Gaddafi-Regime blutig unterdrückt wurden.

Auf der italienischen Mittelmeer-Insel Lampedusa sind unterdessen erneut Hunderte Flüchtlinge aus Afrika gelandet. Wie die Polizei mitteilte, erreichten binnen 24 Stunden Boote mit insgesamt mehr als 700 Menschen die auf halber Strecke zwischen Tunesien und Sizilien gelegene Insel. Die Flüchtlingskrise hat zu Forderungen Frankreichs und Italiens geführt, wieder Grenzkontrollen innerhalb der Schengen-Staaten zuzulassen. Seit den politischen Umbrüchen in Nordafrika sind etwa 25.000 Menschen, vornehmlich aus Tunesien, auf Lampedusa und auf Malta gelandet. Viele wollen nach Frankreich, wo bereits zahlreiche Tunesier leben. Italien hatte diesen Flüchtlingen Visa für den Schengen-Raum ausgestellt, was zu Verstimmungen mit Frankreich und auch mit Deutschland führte.

Spanische Behörden haben am Freitag mit der Suche nach 22 auf See vermissten afrikanischen Flüchtlingen begonnen. Die 19 Männer, eine Frau und zwei Kinder würden vermisst, seit das voll besetzte Flüchtlingsboot, mit dem sie unterwegs waren, am Donnerstag in Seenot geriet, sagte Polizeisprecher Juan Carlos Lopez. Die übrigen 23 Männer sowie zwei Frauen und ein Kind wurden demnach gerettet. Spanische Patrouillen hatten das mit afrikanischen Flüchtlingen besetzte Boot am Freitagmorgen rund 30 Seemeilen vor der südspanischen Stadt Motril entdeckt.

Der italienische Außenminister hält ein baldiges Ende der Nato-Mission in Libyen für realistisch. Es sei „realistisch ein Ende binnen drei bis vier Wochen anzunehmen“, sagte Franco Frattini. Doch müsse der Druck auf Machthaber Gaddafi erhöht werden, um eine politische Lösung zu ermöglichen. Dies sei auch ein Ergebnis des dritten Treffens der Libyen-Kontaktgruppe am Vortag in Rom.

Eine frühere Krankenschwester Gaddafis hat nach Presseberichten Asyl in Norwegen beantragt. US-Diplomaten hatten die gebürtige Ukrainerin Galyna Kolotnytska in geheimen Depeschen als „dralle Blondine“ beschrieben, wie die Internetplattform WikiLeaks Ende 2010 enthüllte. Gaddafi habe der 38-Jährigen, die seiner Entourage angehörte, absolut vertraut. Wie die Zeitung „Dagbladet“ und andere Medien berichteten, hielt sich die Frau zuletzt in einem Flüchtlingszentrum nahe der Hauptstadt Oslo auf. Ein Sprecher der norwegischen Einwanderungsbehörde UDI lehnte einen Kommentar mit dem Hinweis ab, dass Asylangelegenheiten vertraulich behandelt würden.

Frankreich hat unterdessen 14 libysche Diplomaten des Gaddafi-Regimes ausgewiesen. Die Diplomaten seien „unerwünschte Personen“ und müssten Frankreich spätestens in 48 Stunden verlassen, teilte das Außenministerium in Paris mit. Die französische Regierung hat als erstes europäisches Land den Übergangsrat der Aufständischen in Libyen anerkannt, daher betrachtet sie die Gaddafi-Diplomaten nicht mehr als legitime Vertreter ihres Landes. Nicht betroffen sind der Botschafter Libyens Salah Zaren und Unesco-Botschafter Abdul Salam al-Galali, die im Februar zu den Aufständischen übergetreten waren. (dpa/rtr/dapd/AFP)