Warum musste Christian von Boetticher zurücktreten und Horst Seehofer nicht? Der politische Betrieb reagiert mitunter seltsam auf seine Skandale.

Berlin. Der Bundespräsident lebt in zweiter Ehe mit einer weitaus jüngeren Frau zusammen, für die er seine Familie verlassen hat, und ein bekennender Homosexueller ist Außenminister. Beides ist in Deutschland gesellschaftliche Realität und wird gemeinhin akzeptiert. Doch wie steht es um einen damals 39 Jahre alten CDU-Spitzenpolitiker aus Schleswig-Holstein, der sich in eine 16-Jährige verliebt hat? Die Beziehung, längst beendet, ist rechtlich gesehen unproblematisch. Moralisch allerdings hat sie Christian von Boetticher so stark belastet, dass er von seinen Ämtern zurücktreten musste. Er hat offensichtlich eine Grenze überschritten.

Doch wo verläuft diese Grenze in einer Gesellschaft, die weniger Moral, Sitte und Anstand als zentrale Werte betrachtet, sondern vielmehr die Individualität? Ab wann wird das Private zum Politikum, wenn auch Amtsträgern ein Recht auf ein Privatleben nach eigener Façon eingeräumt wird? Von Boetticher hat die Ausmaße dessen, was als moralisch akzeptabel gilt, überschätzt. Noch in seiner Rücktrittserklärung wies er auf seine Einstellung hin, "politisches und privates Umfeld strikt auseinanderzuhalten". Doch das hat nicht funktioniert. Selbst hochrangige Parteifreunde distanzierten sich.

Jedoch gibt es Beispiele im politischen Betrieb, in denen moralische Grenzgänge nicht zwingend zu Rücktritten führten - etwa bei Horst Seehofer. Seine außereheliche Affäre wurde ausgerechnet in jener turbulenten Woche im Januar 2007 bekannt, als sich der Rücktritt des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Chefs Edmund Stoiber ankündigte. Seehofer, seinerzeit Bundeslandwirtschaftsminister, hegte Ambitionen auf das Amt des Parteivorsitzenden - doch dann kam alles anders. Nur wenige Tage vor Stoibers Sturz verkündigte die "Bild"-Zeitung Seehofers heimliche, bereits mehr als drei Jahre andauernde Liaison mit einer Berliner Juristin. Dass seiner Geliebte zum Enthüllungszeitpunkt auch noch schwanger war, war für den damals seit 22 Jahren verheirateten dreifachen Familienvater besonders pikant. Er hatte sich zuvor als Familienmensch dargestellt und war nicht davor zurückgeschreckt, sein privates Idyll in Klatschblättern zu präsentieren. Es war, als ob eine Maske fiel.

Doch die Union stellte sich anders als jetzt bei Boetticher schützend vor Seehofer. Dass er das konservative Familienbild der CSU erschüttert hatte, schien zumindest parteiintern kaum Thema zu sein. Vielmehr jedoch wurde die Forderung erhoben, man möge Politik und Privates doch bitte auseinanderhalten. Seehofers Leben mit zwei Frauen galt als seine ureigenste Angelegenheit. Auf den erhofften Spitzenposten als Stoiber-Erbe musste er dann aber zunächst verzichten. Erst anderthalb Jahre später, im Herbst 2008, wurde er erst CSU- und dann bayerischer Regierungschef. Wer die Affäre 2007 lanciert hatte, ist unklar. Seehofers Karriere konnte die Indiskretion nichts anhaben. Ein Doppelleben zu führen, ist noch lange kein Rücktrittsgrund.

Anders als bei Seehofer war es bei Rudolf Scharping das Zurschaustellen zu großer Privatheit, die ihn ins Wanken brachte. Im Sommer 2001 hatte er sich von der Zeitschrift "Bunte" auf Mallorca im Hotelpool mit seiner Lebensgefährtin ablichten lassen. Es waren intime Fotos - zum Problem wurde für den Sozialdemokraten jedoch die Tatsache, dass sich zeitgleich die Bundeswehr auf einen Kriegseinsatz in Mazedonien vorbereiten musste, während ihr Dienstherr öffentlich turtelte. Die Opposition schäumte und forderte Scharpings Rücktritt. Noch mehr Brisanz erhielt der Fall aber dadurch, dass sich der Minister mehrfach mit der Flugbereitschaft der Bundeswehr von Mallorca abholen ließ, um an Sitzungen in Berlin teilzunehmen. Eine Verschwendung von Steuergeldern? Nein, sagte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und stärkte Scharping den Rücken.

Doch der Verteidigungsminister war angezählt. Gehen musste er endgültig 2002 nach zweifelhaften Geldgeschäften mit jenem PR-Berater Moritz Hunzinger, an den auch Cem Özdemir heute eher schlechte Erinnerungen haben dürfte. Der Grünen-Politiker, damals 36 Jahre alt und ein Musterbeispiel an Integration, hatte in einer finanziellen Notlage einen Kredit von Hunzinger über 80 000 Mark angenommen. Mit dem zinsgünstigen Darlehen wollte er eine Steuernachforderung begleichen. "Es war wohl Unvorsicht und Naivität, dass ich damals keine Rücklagen gebildet habe", sagte er damals. Die Partei, die unbedingt einen anderen Stil pflegen wollte als die "Alt-Parteien", rügte Özdemir, aber wollte die Sache danach schnell vergessen. Dann kam die nächste Dummheit ans Licht: Özdemir hatte dienstlich gesammelte Bonusmeilen für private Zwecke genutzt und damit gegen die Regeln des Bundestags verstoßen. Einen Tag nach Bekanntwerden seiner Meilen-Affäre trat Özdemir vom Amt des innenpolitischen Sprechers zurück und kündigte den Verzicht auf eine weitere Bundestagskandidatur an. Nun hielt ihn niemand in seiner Partei mehr auf. Er war nicht der einzige, der Meilen privat verflogen hatte. Auch der damalige Berliner PDS-Wirtschaftssenator Gregor Gysi trat aus demselben Grund zurück. Andere, wie etwa der spätere parlamentarische Staatssekretär Rezzo Schlauch (Grüne), klammerten sich an ihre Ämter, und sie blieben, weil sich die mediale Aufmerksamkeit verlagerte: In den Fluten des Elbehochwassers war die Meilen-Affäre schnell vergessen.

+++Rückttritt von Boettichers: ein politisches Desaster?+++

Özdemir durfte nach zwei Jahren in die Politik zurückkehren, am Anfang als Europaparlamentarier. Heute gilt der Grünen-Vorsitzende als unbelastet. Die finanzielle Schuld ist längst beglichen, die politische offenbar auch. Gerade mit Blick auf die Bundestagwahl 2013 gilt er wieder als grüner Hoffnungsträger.

Als die Plagiatsjäger der Internetseite Vroniplag im April dieses Jahres auch Silvana Koch-Mehrin ins Visier nahmen, wollte sie es besser machen als Karl-Theodor zu Guttenberg. Die FDP-Europa-Abgeordnete vermied es, von "abstrusen" Vorwürfen zu sprechen, wie es der Verteidigungsminister anfangs getan hatte. Sie schwieg und wollte die Prüfung ihrer Doktorarbeit durch die Universität Heidelberg abwarten. Im Mai sickerte allerdings durch, dass die Universität den Doktortitel aberkennen wolle. Koch-Mehrin trat sofort von ihren Ämtern als Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und als Vorsitzende der FDP im Parlament zurück. Mit diesem Schritt verließ die 40-Jährige das Gespür für den richtigen Ton: Koch-Mehrin begründete ihren Rückzug mit ihrer Familie, die sie nicht weiter durch die öffentliche Diskussion über sie belasten wolle. Ein Schuldeingeständnis? Fehlanzeige. Als die Aberkennung offiziell wurde, griff sie die Hochschule an. Und als sich die Wogen glätteten, wollte sie Mitglied im Forschungsausschuss werden - der nächste Skandal. Die nächste Europawahl ist für 2014 geplant. Für drei Jahre wird es wohl ruhig um Koch-Mehrin werden. Ob sie noch einmal antreten darf, wird maßgeblich davon abhängen, wie viel Reue sie noch zeigen wird.

Die Politik verlangt Demut von ihren Sündern. Christian von Boetticher hat bereits bei jenen um Entschuldigung gebeten, die auf ihn gesetzt hatten. Wie bei Guttenberg wird man auch bei ihm eines Tages fragen: Darf er zurück in die Politik? Die Antwort hängt nicht nur davon ab, ob ihm Wahlvolk und Partei die Fehler verzeihen - sondern auch, ob sie sie vergessen können.