Ministerpräsident Peter Harry Carstensen spricht mit dem Abendblatt über den Sturz seines Kronprinzen Christian von Boetticher.

Kiel. Die Vorbereitungen erinnern eher an einen Untersuchungsausschuss. Für das Gespräch über den Umgang mit der verhängnisvollen Affäre seines politischen Ziehsohns Christian von Boetticher lässt sich der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Peter Harry Carstensen von einem Berater ein DIN-A4-Blatt reichen. Darauf stehen Daten und Ereignisse, die mit ihnen verknüpft sind. Der CDU-Politiker will jeden Verdacht zerstreuen, er habe sich an einer Intrige gegen von Boetticher beteiligt. Carstensen wirkt erschöpft und angespannt, als in seinem Büro in der Kieler Staatskanzlei das Abendblatt-Interview beginnt.

Hamburger Abendblatt: Herr Carstensen, warum hatten Sie Christian von Boetticher zu Ihrem Kronprinzen erkoren?

Peter Harry Carstensen: Ihn zeichnet eine große Analysefähigkeit aus, er ist schlagfertig und sehr konsequent in seiner politischen Ausrichtung. Das Landwirtschaftsministerium hat er ausgesprochen gut geführt. Ich habe mir da keinen Vorwurf zu machen.

Wie haben Sie von seiner Liaison mit einer 16-jährigen Schülerin erfahren?

Carstensen: Ich habe am 13. Juli von einem Gerücht erfahren. Ich war dabei, mich in meinem Büro auf eine Auslandsreise vorzubereiten. Am späten Nachmittag hat mich jemand informiert, den ich als ernsthaft bezeichnen würde. Ich konnte mir das überhaupt nicht vorstellen.

Wie haben Sie reagiert?

Carstensen: Ich habe versucht, Christian von Boetticher zu erreichen. Ich habe es vor meinem Abflug aber nicht mehr geschafft.

Und dann?

Carstensen: Am 19. Juli bin ich aus dem Ausland zurückgekehrt - und habe ihn angerufen. Christian von Boetticher war dabei, nach Dubai zu fliegen, und ich erreichte ihn am Flughafen. Ich hatte gehofft, dass er das Gerücht empört zurückweisen würde. Aber diese Reaktion kam nicht. Er nahm es zur Kenntnis und schien etwas betroffen. Ich sagte: Christian, darüber werden wir noch reden müssen. Er sagte: Jawohl - und flog ab.

Wann kam es zu dem Gespräch?

Carstensen: Am 28. Juli. Als er zurück war, hat er mich angerufen. Ich war mit dem Auto in Dänemark unterwegs. Ich fuhr rechts ran, und wir redeten eine halbe Stunde. Er sagte: Jawohl, ich war verliebt in ein Mädchen, das damals 16 war und heute 17 ist. Das sei ein paar Monate gegangen, aber jetzt sei es vorbei. Und rechtlich sei alles in Ordnung. Ich habe ihm gesagt: Pass auf, das hat nicht nur eine rechtliche Dimension. Und ich empfahl ihm, sehr offen und offensiv mit der Geschichte umzugehen.

Was er aber nicht getan hat.

Carstensen: Er hat sich immer auf die Rechtsposition zurückgezogen. Und er glaubte, die Presse dürfe darüber gar nichts bringen. Das habe ihm ein Medienanwalt gesagt.

Von Boetticher war also entschlossen, die Sache geheim zu halten.

Carstensen: Ich habe immer wieder versucht, ihn zum Handeln zu bewegen. Irgendwann in diesen Tagen habe ich erfahren, dass er auch verheiratet ist. Davon wusste ich nichts. Das gab der Geschichte aber noch eine größere Dimension.

Wie ist die verhängnisvolle Affäre an die Öffentlichkeit gelangt?

Carstensen: Das kann ich Ihnen nicht sagen.

Weil Sie es nicht wissen?

Carstensen: Überall waberten Gerüchte. Es war klar, dass es irgendwann knallen wird. Ich habe Christian von Boetticher geraten, die Konsequenzen zu ziehen und den Rückzug anzutreten. Am vergangenen Samstag hat mich eine Sonntagszeitung angerufen, und ich habe mich gewundert, wie viel die schon wussten.

Eine Intrige von Parteifreunden?

Carstensen: Jedenfalls nicht von mir.

Sie haben keinen Fehler gemacht?

Carstensen: Nein, ich habe keinen Fehler gemacht. Ich habe versucht, zu einer schnellen Aufklärung beizutragen.

Wie groß ist Ihre Enttäuschung über Ihren politischen Ziehsohn?

Carstensen: Im Moment tut er mir eher leid. Das ist eine menschliche Katastrophe. Ich möchte nicht in seiner Haut stecken.

Was bedeuten die Ereignisse für Ihr politisches Lebenswerk?

Carstensen: Für meines?

Sie wollten ein bestelltes Feld hinterlassen.

Carstensen: Ich komme aus der Landwirtschaft, und ich weiß: Wenn die Saat nicht so aufgeht, wie man sich das wünscht, muss nachgesät werden. Das geschieht jetzt. Und es wird noch eine ordentliche Ernte geben.

Wenn Christian von Boetticher in der Angelegenheit rechtlich nichts vorzuwerfen ist: Folgt die Politik einer höheren Moral als die Justiz?

Carstensen: Wer hohe Staatsämter anstrebt, muss hohen moralischen Ansprüchen gerecht werden. Davor können wir uns nicht verschließen.

Handelt ein Politiker, dessen Partei das C im Namen trägt, mit größerer Verantwortung als andere Politiker?

Carstensen: Das weiß ich nicht. Ich denke, die Menschen machen da keinen großen Unterschied. Was mich betrifft: Ich versuche, mein C zu leben.

Was raten Sie von Boetticher?

Carstensen: Ich rate Christian gar nichts. Ich drücke ihm die Daumen, dass er diese Geschichte auch seelisch gesund übersteht. Er muss im Moment außerordentlich viel ertragen.

Wissen Sie, wie es ihm geht?

Carstensen: Er ist körperlich und seelisch schwer getroffen. Jeder Arzt würde ihm abraten, jetzt seiner Arbeit nachzugehen.

Ist ein Comeback denkbar?

Carstensen: Er ist ein großes politisches Talent. Daran hat sich nichts geändert. Wenn die Geschichte aufgearbeitet und genügend Zeit vergangen ist, kann ich mir ein Comeback vorstellen.

Haben Sie sich überlegt, selbst noch einmal als Spitzenkandidat anzutreten?

Carstensen: (lacht) Es gab Leute, die mich gefragt haben. Aber ich habe Nein gesagt. Ich habe meinen Abschied aus der Politik sauber vorbereitet. Das ist selten geworden in Deutschland. Es gibt kein Zurück.

Welche Chancen hat der neue Spitzenkandidat Jost de Jager gegen SPD-Herausforderer Torsten Albig?

Carstensen: Gute. Davon bin ich zutiefst überzeugt.

Mit Amtsbonus als Regierungschef hätte er wahrscheinlich noch bessere Chancen. Überlassen Sie ihm vor der Wahl die Staatskanzlei?

Carstensen: Jost de Jager ist ein exzellenter Wirtschaftsminister. Man sollte die Möglichkeiten dieses Amtes nicht unterschätzen.

Welcher Koalitionspartner wäre der CDU am liebsten?

Carstensen: Die FDP.

Und wenn es nicht reicht?

Carstensen: Wir können mit allen Demokraten reden. Für das Land ist es wichtig, dass die CDU wieder den Ministerpräsidenten stellt.

De Jager und Albig könnten eine Große Koalition harmonischer führen als Sie und Stegner ...

Carstensen: Jeder kann eine Große Koalition harmonischer führen, wenn Stegner nicht dabei ist.

Als von Boettichers Affäre in den Zeitungen stand, twitterte Stegner einen Musiktipp: "Surprise, Surprise" von den Rolling Stones ...

Carstensen: Ich bin nicht bei Twitter und auch nicht bei Facebook. Und ich bin ganz froh darüber.