Abendblatt-Chefredakteur Claus Strunz hat eine Debatte über den “Bürger 2020“ angestoßen. Heute schreibt Michel Friedmann zu diesem Thema.

Die Weltwirtschaftskrise, die Tatsache, dass China, Indien und Südamerika die einzigen Wirtschaftswachstumszentren der Welt geworden sind, währenddessen Amerika und vor allen Dingen Europa sich zum Problem- und Sanierungsfall entwickelt haben, zwingt uns dazu, die Frage, wo ist Deutschland im Jahre 2020 intensiv und kreativ, zu stellen. Der größte Stabilitätsfaktor Deutschlands, der Mittelstand und das Bürgertum, ist in den vergangenen zehn Jahren brüchig geworden.

Deutschlands Probleme sind mittlerweile so oft beschrieben worden, dass es müßig erscheint, Analysen zu wiederholen. Deswegen in Kurzschrift: Veralterung der Gesellschaft gleich demokratische Probleme, mangelnde Integration der unteren sozialen Schichten und der Bürger mit Integrationshintergrund. Ein Bildungssystem, das nicht mehr zukunfts- und konkurrenzfähig ist. Ein Staats- und Politikbewusstsein, das den Staatshaushalt unabhängig von der Finanzkrise in den Bankrott führen wird.

Um aus dieser schwierigen Analyse ein Zukunftskonzept zu entwickeln, müssen das Verständnis des Staates, des Bürgers und das Verhältnis zwischen Staat und Bürger neu definiert werden. Solange das Bewusstsein vorherrscht, der Staat ist für alle Probleme des Individuums zuständig und für deren Lösung verantwortlich, entmündigt sich der Bürger auf Kosten der Politik. Diese wiederum gewinnt an Macht. Diese Macht erobert sie sich durch Dienstleistungen aller Art, die ein Vermögen kosten. Dieses Vermögen wiederum wird vom Bürger durch immer höhere Steuern bezahlt. Ein diabolischer Kreislauf. Oberflächlich diskutieren wir dieses Phänomen fiskalisch. In Wirklichkeit geht es aber um das Selbstbewusstsein und die Identität eines sich selbst bestimmenden Menschen in einer Gemeinschaft. Selbstverantwortlichkeit muss wieder ein Schlüsselwort bürgerlicher Identität werden.

Der durchsubventionierte Bürger, der sich auf Kosten der Gemeinschaft wohlfühlt (damit sind nicht nur untere Schichten gemeint, sondern gerade Bürgerliche und Wohlhabende, die sich Theater- und Opernkarten und sonstige Dienstleistungen bezahlen lassen, obwohl sie das selbst könnten), muss dem Selbstverantwortlichen weichen. Der Bürger des Jahres 2020 muss seine Freiheit und Unabhängigkeit von der Politik als etwas Positives erleben. Gelobt, geehrt und geschätzt muss der Steuerehrliche und nicht der Steuerunehrliche werden, muss der Bürger sich fühlen, der sich für sich selbst und die Gemeinschaft engagiert.

Damit kein Missverständnis entsteht, hier geht es nicht um neoliberale Positionen. Eine menschliche Gesellschaft muss für die wirklich Schwachen und Hilfsbedürftigen einstehen. Deswegen wird eine Diskussion nötig sein, wo dieser ethische Anspruch von allen Schichten und Beteiligten missbraucht wird. Deswegen glaube ich nicht, dass die Höhe der Steuern das wirkliche Problem darstellt, sondern die inkompetente Verwendung durch die politische Klasse und die übermäßige Verwendung durch diejenigen, die sich als perfekte Antragsteller bis zur Wirtschaftssubvention entwickelt haben. Dies zu verändern, ist eine geistig-politische Leistung, die zu vielen Konflikten führen muss, weil sie Erbansprüche infrage stellt.

So abgelutscht es klingt, so richtig bleibt es jedoch, dass wir vor allen Dingen für die Jetztgeborenen die Verpflichtung haben, sie in ihrer jeweiligen Begabung auszubilden. Nur durch die konsequente Entwicklung dieses Anspruches wird Deutschland zukunftsfähig bleiben. Dass dies geht, zeigen uns selbst in Europa Länder wie Schweden und Finnland. Es gibt für mich kein nachvollziehbares Argument, dass dies in Deutschland nicht geht.

Die Internationalität Deutschlands, die Einwanderungs- und Emigranten-Gesellschaft sind eine große Chance. Ohne den ausländischen Bürger in unserem Land wird dieses Land nicht zukunftsfähig sein. Dies wird der Bürger 2020 nicht nur begriffen haben, sondern er wird endlich die nationale und ethische Vielfalt zu einem Joker der Zukunft umfunktioniert haben. Auch hier möchte ich nicht missverstanden werden. Es gibt sie, die Integrationsprobleme, die Unterdrückung von Frauen in der islamischen Community, die mangelnde Integrationsbereitschaft einiger Ausländergruppen. Mehrheitlich aber träumen die meisten Ausländer und die Eingebürgerten den Traum eines besseren Lebens wie alle anderen auch. Diese Energie positiv zu nutzen, alle Anstrengungen eines Miteinanders aufzubauen, ist Bürgerpflicht. Der Citoyen 2020 wird endgültig in einem multikulturellen Europa mit einem multikulturellen Deutschland seine Identität entwickeln und diese in einer globalen Welt integrieren müssen.

Die neuen Kommunikationsinstrumente, die es dann geben wird, werden die heute erlebten alt aussehen lassen. Bei aller Kritik und Nachdenklichkeit ist diese Kommunikationsvielfalt und Grenzenlosigkeit immer eher ein Fortschritt als eine Gefahr. Gefahren können intelligent gelöst werden, aber nicht auf Kosten des Fortschritts. Ich glaube zutiefst daran, dass der Mensch fähig ist, sein eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen, wenn die Umstände stimmen und ein schlanker staatlicher Rahmen dies begleitet. Gerade in Deutschland ist dieser Gedanke spätestens in der Entwicklung der letzten Jahrzehnte bewiesen worden. Wenn nach Hitler, dem 3. Reich und dem Holocaust in kürzester Zeit Deutschland aus einer menschenhassenden Diktatur zu einer demokratischen Gesellschaft wurde, ist die Herausforderung der nächsten zehn Jahre eher ein Spaziergang.

Allerdings müssen wir Lust, Freude und Perspektive auf diesem Spazierweg pflanzen. Wir müssen den Menschen wieder in den Mittelpunkt stellen und Erfolgspunkte definieren. Wir befinden uns in einer der spannendsten und bewegendsten Zeit der Menschheitsgeschichte. Zwar stimmt es, dass nach wie vor viel zu viel Menschen in Armut, Elend und Unterdrückung leben. Andererseits lebten noch nie so viele Menschen in Freiheit und Selbstbestimmung. Allerdings wissen wir aus der Geschichte, dass nur die Bewegung und die Veränderung unter Berücksichtigung der bisherigen Erfahrung Zukunft bietet. Angst vorm Scheitern und Angst vorm Irrtum dürfen nicht den Mut zum Handeln erdrücken. Der Bürger 2020 in Deutschland wird dies hoffentlich erleben, weil er als Bürger im Jahre 2010 - spätestens - damit begonnen hat.

Morgen lesen Sie einen Beitrag von Klaus von Dohnanyi